"Call Russia": Anrufe für den Frieden in der Ukraine
Seit Jahren schränkt die russische Regierung die Pressefreiheit ein. Mit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine verschlechterte sich die Situation dramatisch. Ein Litauer startete daraufhin ein außergewöhnliches Projekt, um Russinnen und Russen über den Krieg und seine Folgen zu informieren: "Call Russia".
Am 24. Februar, als Russland die Ukraine angriff, hatte Paulius Senuta einen schrecklichen Gedanken: Das ist das Ende. Aber er konnte nicht herumsitzen und nichts dagegen unternehmen. Doch was tun? Senuta lebt in Vilnius, der Hauptstadt Litauens. Er ist in der UdSSR aufgewachsen, ohne freien Zugang zu Informationen. Diese Zeit prägte ihn. Und genau das passiert nun wieder in Russland.
Senuta erinnert sich, wie ein guter Freund die entscheidende Idee für sein Projekt hatte: "Weißt du, was das Lustige an Russland ist? Alle Telefonnummern sind online. Wir können sie anrufen."
Telefonate für Aufklärung
So war die Idee von "Call Russia" geboren. Die Website generiert Telefonnummern aus dem Internet per Zufallsprinzip. Russisch-sprachige Menschen, die im Ausland leben, können so mit Menschen in Russland telefonieren, um Meinungen und Informationen auszutauschen. Eine Art Guerrilla-Taktik für den Frieden. So könnten Menschen in Russland nicht nur mit Informationen versorgt werden, sondern auch motiviert werden, selber weiter zu recherchieren, hofft Senuta.
Seit Beginn des Projekts Anfang März hätten 43.000 Freiwillige mitgemacht und fast 150.000 Mal angerufen - 9.000 solcher "Friedensanrufe" gingen von Deutschland aus. Doch wie ist es, mit einer wildfremden Person über den Krieg zu sprechen? Denn: Wer sich in Russland gegen den Krieg öffentlich äußert, riskiert bis zu 15 Jahre Haft.
"Call Russia": Eine Gesprächsanleitung hilft
Polina Davidenko lebt in Hamburg. Ursprünglich kommt die Journalistin und Sprachlehrerin aus Moskau. Sie möchte über die Seite "Call Russia" mit Menschen in Kontakt treten, mit denen sie nie spricht: "Seit Anfang des Krieges, obgleich ich Freunde und Bekannte in Moskau habe, habe ich nur Kontakt zu den wenigen gehabt, die auch anerkennen, dass es ein Krieg ist. Aber trotzdem hört man immer wieder, dass 70 Prozent der Menschen in Russland doch den Krieg unterstützen und finden, dass Putin alles richtig macht. Insofern bin ich sehr gespannt."
Auf der Webseite steht auch eine Gesprächsanleitung. Paulius Senuta und sein Team haben sie mithilfe von Psychologen erarbeitet, damit die Gespräche nicht im Streit enden. Davidenko probiert mehrere Nummern aus, zunächst ohne Erfolg. Dann meldet sich doch eine Frau. Zaghaft beginnt das Gespräch. Sie sprechen etwa neun Minuten lang. Polina diskutiert lebhaft mit der etwas zurückhaltenden Frau.
Dann fällt das Wort: Krieg
Hinterher zeigt sie sich begeistert über das Gespräch: "Richtig gut!" Zwar sei die Gesprächspartnerin am Anfang sehr zurückhaltend gewesen, doch davon habe sie sich nicht entmutigen lassen, sondern immer wieder nachgefragt. Bis die Frau letztendlich das Wort ausspricht, das sich noch nicht einmal Davidenko traut, in dem Gespräch zu sagen: Krieg. Nach der anfänglichen Skepsis stellt sich heraus, die Frau ist dagegen. Darüber redet nur keiner. Die Ohnmacht scheint allgegenwärtig zu sein.
Umso wichtiger war für Polina Davidenko dieser Anruf. "Insofern kann ich mir vorstellen, dass es ihr gut getan hat, darüber zu sprechen und zu merken: so ohnmächtig sind wir auch gar nicht als normale Bürgerinnen und Bürger. Und dass es doch vielleicht in unserer Hand liegt, etwas zu verändern."
Friedensforscher: Putin benötigt Unterstützung des Volkes
Der Russlandexperte Mikhail Polianskii vom Friedensforschungsinstitut HSFK betont, dass Putin die Unterstützung des Volkes benötigt: "Putin würde nicht in den Propaganda-Apparat so massiv investieren, wenn für ihn die Meinung der Bevölkerung keine Rolle spielen würde." Auch wenn bei Projekten wie "Call Russia" noch keine greifbaren Ergebnisse vorzuweisen seien, dürfe man sie nicht einfach abschreiben, so der Forscher.
Von resignierten Menschen bis zu Kriegsfanatikern
Zwei Stunden nimmt sich Polina Davidenko am Abend Zeit, um anzurufen. Es ist schwer, Menschen zu erreichen. Sie wählt über 30 Nummern. Meistens geht niemand ran. Zweimal kommt sie noch durch. Die Gespräche reichen von resignierten Menschen - wie die erste Frau - bis zu fanatischen Kriegsbefürwortern. Es sind genau diese Gespräche, die für "Call Russia"-Gründer Senuta die wichtigsten, aber auch die schwierigsten sind. Das seien die Menschen, die unbedingt erreicht werden sollten, sagt er.
Davidenkos erster Eindruck: Sie hat Brücken gebaut - zu Menschen, die sie nicht kennt und die eine anderen Meinung haben. Und auch, wenn sie sich nicht sicher ist, wie viel sie damit verändern kann, wird sie weiter anrufen.
