So war das Klassik-Festivalwochenende im Norden
Ferienzeit ist auch gleich Festivalzeit in Norddeutschland. Spannende Klassik-Konzerte von Flensburg bis Göttingen, von Leer bis Peenemünde. Wer das alles miterleben möchte, hat die Qual der Wahl. Ein Selbstversuch.
Ich wollte natürlich alles und das war mit einem kleinen Trick sogar möglich: indem ich in Hitzacker schon am Freitagabend die Generalprobe für das spektakuläre Eröffnungskonzert besucht habe. Am Sonnabend bin ich dann nach Lübeck gefahren und Sonntag habe ich wieder einen ganzen Tag in Hitzacker verbracht. Auf diese Weise konnte ich sechs Konzertprogramme und noch einen Meisterkurs miterleben - sieben auf einen Streich - mehr geht nicht. Übrigens hätte man sich auch dafür eigentlich zweiteilen müssen, denn zeitgleich haben die King’s Singers beim Schleswig-Holstein Musik Festival ebenfalls einen ihrer inzwischen schon traditionellen Meisterkurse gegeben.
Rauschendes A cappella-Fest mit den King's Singers in Lübeck
Die King's Singers waren auch die Gastgeber der ersten langen A cappella-Nacht beim Schleswig-Holstein Musik Festival: ein rauschender Erfolg, ein echtes A cappella-Fest mit vier bestens aufgelegten Vokalensembles und einem jubelnden Publikum in der ausverkauften Lübecker Musik- und Kongresshalle.
Die King's Singers, ganz britische Gentlemen in schwarzen Maßanzügen und Lackschuhen, haben den Löwenanteil bestritten, aber sie hatten auch drei ihrer ehemaligen Workshop-Teilnehmer eingeladen: Vokaldente aus Hannover, eine international erfolgreiche Boygroup, die sich auf Pop, Folk und Unterhaltungsmusik spezialisiert hat; das EVA Vokaal Ensemble aus den Niederlanden - die fünf Frauen haben am Sonnabend ihr letztes Konzert vor der Auflösung ihrer Gruppe gegeben - und schließlich die an Bühnenjahren jüngste Formation, Vocado aus Hamburg, sechs Schulmusiklehrer*innen, die sich auf keinen Stil festlegen lassen wollen. Und so gab es ein bunt gemischtes Programm von Renaissancemusik bis zu den Beach Boys, von ganz innig bis richtig witzig - und am Schluss sogar mit allen zwei Dutzend Sängern zusammen, das war schon ein tolles Spektakel.
Reise durch 1.000 Jahre Lied-Geschichte in Hitzacker
Gesang hat auch eine Rolle gespielt beim ersten Wochenende der Sommerlichen Musiktage Hitzacker. Denn einer der Schwerpunkte in diesem Jahr heißt "1.000 Jahre Lied", und da gibt es natürlich viel zu entdecken - neben Schubert und Schumann.
Der britische Tenor Ian Bostridge und seine Klavierpartnerin Saskia Giorgini haben die Latte gleich hoch gelegt, mit zwei außergewöhnlichen Liedzyklen von Respighi und Britten, den "Deità silvane" ("Waldgöttern") und den Michelangelo-Sonetten, die schon vor 500 Jahren die homoerotische Liebe feierten - in den 1940-ern ein höchst pikantes Thema für den homosexuellen Komponisten Benjamin Britten und dessen Geliebten, den Tenor Peter Pears.
Freude und Enttäuschung bei den Sommerlichen Musiktagen
Beide Zyklen sind hochexpressive Werke mit einer Fülle an Klangfarben und Ausdrucksnuancen bis hin zu einzelnen Vokalfärbungen, und wie wichtig die sind, hat Bostridge auch in seinem öffentlichen Meisterkurs für junge Liedduos am Beginn ihrer Karriere deutlich gemacht, am Sonntagnachmittag in der Kirche von Hitzacker.
Doch in erster Linie sind die Sommerliche Musiktage ein Kammermusikfestival, und da hatte ich mich auf ein Konzert besonders gefreut: auf das Rezital der armenisch-amerikanischen Bratschistin Kim Kashkashian, die ja nun seit fast einem halben Jahrhundert international als eine der Meisterinnen ihres Instruments gilt. Sie hatte auch ein interessantes Programm mit mehreren Bearbeitungen zusammengestellt. Ich muss aber gestehen, ihr Spiel hat mir überhaupt nicht gefallen: ich fand es oft fast ruppig und nicht sehr sauber intoniert.
Kammerkonzert-Debut einer 19-jährigen Pianistin
Eine tolle Überraschung war dagegen ein Gastspiel aus Spanien am Sonntagvormittag: Der junge Geiger Javier Comesaña, Gewinner des Violinwettbewerbs Hannover 2021, hatte zwei Landsleute mitgebracht: Einen Hornisten und eine erst 19-jährige Pianistin, die bei der Gelegenheit ihr erstes Kammerkonzert überhaupt gab - und dann gleich anderthalb Stunden ohne Pause mit einem fordernden Programm von Brahms bis de Falla. Keine virtuosen Angeberstücke, sondern alles ganz fein und gefühlvoll musiziert. Einen Mitschnitt davon sendet NDR Kultur im Oktober.
Ein bisschen schwierig dürfte es nur mit der offiziellen Festivaleröffnung im Radio werden, denn "Kokon" ist ein multimediales Projekt, ein gewagtes Experiment vom Kuss Quartett und dessen musikalischen Freunden: dem Schlagzeuger Johannes Fischer, dem Poetry-Slammer Bas Böttcher und zwei Tänzern, die alle miteinander und gegen- und durcheinander agieren. Viel zeitgenössische Musik war dabei, auch Live-Elektronik, alles unter Einbeziehung des gesamten Raums - weil das Festivalmotto ja "Zeit.Räume" heißt. Aber das Festivalpublikum, das ja in Hitzacker immer sehr kenntnisreich und aufgeschlossen ist, hat sich jedenfalls mit allen Sinnen darauf eingelassen.
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