Stand: 28.06.2014 14:34 Uhr

Der Jahrtausendtornado von Woldegk vom 29. Juni 1764

von Henning Strüber, NDR.de

Wildeste Gerüchte kommen dem Stargarder Propst Gottlob Burchard Genzmer über die "ausserordentliche Lufterscheinung" zu Ohren, die am 29. Juni 1764 einen Landstrich bei Woldegk im östlichen Mecklenburg in ungeheuerlicher Weise verwüstet haben soll. Gerüchte über bis auf die Grundmauern abgetragene Wohngebäude und in die Luft gehobene Scheunen, über Kinder, die von einem Wirbelwind fortgeweht und nicht wiedergefunden wurden, über Gänse, die von riesigen Hagelkörnern erschlagen wurden, über vereiste Äste, die kilometerweit durch die Luft flogen. Die Erzählungen von der "unerhörten Naturbegebenheit" dringen bis an den Hof des Herzogtums Mecklenburg-Strelitz in Neustrelitz. Ein Minister erteilt Genzmer den Auftrag, vor Ort zu prüfen, was an den Behauptungen dran ist.

Woldegk-Tornado zieht eine Schneise der Verwüstung

Was der an Naturwissenschaften und klassischer Antike interessierte Gottesmann sieht, als er zwei Monate später den Schauplatz der Katastrophe aufsucht, lässt ihn erschaudern. Doch Genzmer besinnt sich auf seinen Auftrag. Ganz Naturwissenschaftler folgt der Pastorensohn der nicht zu übersehenden Spur der Verwüstung von ihrem Anfang bei Feldberg bis sie sich bei Helpte wieder verliert. Es stellt sich heraus, dass sie bis zu 900 Meter breit und etwa 30 Kilometer lang ist. Es ist ein Gang durch eine apokalyptische Landschaft. Die Schneise der Zerstörung verläuft mit leichten Schlenkern durch die hügeligen Wälder hinab zum einen Ufer eines Sees und dann vom anderen weiter über Felder und Wiesen dicht an einigen Gehöften vorbei, aber durch manche andere auch mitten hindurch. Alles, was in ihrem Weg stand, ist dem Erdboden gleich gemacht.

Vermessung eines Trümmerfelds

Genzmer protokolliert die Schäden auf dem Trümmerfeld akribisch. Er vermisst den Umfang mächtiger Eichenstämme, die entwurzelt an den Alleen liegen, die Dicke knapp aus dem Boden ragender Grundmauern, auf denen vor Kurzem noch Häuser gestanden hatten, er schreitet die Strecke ab, die zwischen einer Scheune und dem weggewehten Dach liegt, er fertigt Zeichnungen verdrehter Äste an. Er erkundigt sich nach den genauen Witterungsbedingungen am Tag des Sturms, hört sich die Schilderungen von Augenzeugen an und prüft gewissenhaft deren Glaubwürdigkeit, um auch ja bei der Wahrheit zu bleiben.

Noch glimpflich davongekommen

Er hört von einem Pastor, der in seinem Ruderboot auf dem Haussee von einem "gewaltigen Dampf" überrascht wird und sich mit Mühe ans Ufer retten kann, von wo aus er sieht, wie sich das Wasser erst zurückzieht, um dann mit voller Wucht über die Ufer zu branden. Er spricht mit einem Schäfer, der sich in einem hohlen Baum vor dem dunklen Ungetüm retten kann, während ringsum einige seiner Schafe fortgerissen werden. Von der Familie des Gemeindebeamten erfährt er, dass sie zu Tisch saßen und zunächst gar nicht mitbekamen, wie der Luftwirbel eine Wand aus dem Giebel reißt. Etwas weiter fordert die "gewaltsame Begebenheit" zwei Todesopfer. Eine Großmutter und ihr Enkelkind werden in der Küche von Trümmern erschlagen. Die übrigen Familienmitglieder waren noch nicht vom Kirchgang zurück. Der vierteljährliche Buß- und Bettag, der an jenem 29. Juni in der Region begangen wurde, dürfte der Grund dafür sein, dass der "heftige Orcan" mit zwei Toten und mehreren Verletzten vergleichsweise glimpflich ablief. Statt auf den erntereifen Feldern, wo er am heftigsten wütete, waren die meisten Menschen in der Kirche.

Bericht wird publiziert

Genzmers Beobachtungen münden in einen 56 Seiten langen Bericht, den er seinem Auftraggeber übergibt und der später publiziert wird. Manche Einzelheiten darin klingen schier unglaublich. So wurden etwa die knapp aus dem Boden ragenden Stubben einige Jahre zuvor gefällter Eichen vom Tornado aus dem Boden gerissen. Am Ende seiner Untersuchung wird der Gelehrte wieder ganz zum demütigen Gläubigen, der ehrfürchtig die Allmacht Gottes preist, wie Genzmer es in der Vorrede seines Berichts tut. Eine genaue Erklärung für das, was vorgefallen ist, hat er nicht.

Die Fujita-Skala

"Der stärkste in Deutschland bekannte Tornado"

250 Jahre später weiß man, dass es sich um einen Tornado der Stärke F5 gehandelt hat. "Das ist der stärkste in Deutschland bekannte Tornado", sagt Thomas Sävert, Meteorologe bei der Meteogroup-Unwetterzentrale und Experte für Extremwetter. F5 ist die höchste Stufe auf der Fujita-Skala, die die Stärke von Tornados bestimmt. Windgeschwindigkeiten von 450 km/h treten dabei auf. Grundlage für die Klassifizierung von Tornados ist die Schadensanalyse. Die aus dem Boden gerissenen Eichenstubben rechtfertigen für Experten eine Klassifizierung des Woldegker Tornados als F5. "Ein F5-Tornado ist sehr selten", sagt Sävert, der auch die Tornadoliste betreut, eine Webseite, auf der alle in Deutschland bekannten Tornados und Verdachtsfälle registriert werden. Unter den rund 4.000 aufgeführten Fällen, die bis ins Mittelalter zurückreichen, befinden sich gerade einmal zwei F5-Tornados. Der zweite ereignete sich 1800 im sächsischen Hainichen. "Mehr als 80 Prozent aller Tornados sind nur schwach - F0 bis F1. F2-Tornados kommen in fast jedem Jahr mehrere vor, ein F3-Tornado tritt in Deutschland etwa alle zwei Jahre auf, ein F4 circa alle 20 Jahre und ein F5 noch seltener", sagt Sävert.

Woldegk-Tornado wird zum wissenschaftshistorischen Glücksfall

Wedge-Tornado nahe der texanischen Stadt Jayton am 12. Juli 2005. © picture-alliance Foto: Keystone Sennott/Star Tribune
Heute gibt es Bildaufnahmen von F5-Tornados wie diesem in Texas. Der in Woldegk dürfte ähnliche Ausmaße gehabt haben.

Von ähnlicher Seltenheit wie der Woldegker Tornado sind Dokumente wie der Genzmer-Bericht. Durch ihn gilt das Ereignis als Glücksfall für die Tornadoforschung. "Wissenschaftshistorisch ist der Genzmer-Bericht das wichtigste Zeugnis aus dieser Zeit", sagt Bernold Feuerstein. Der Heidelberger Physiker beschäftigt sich in seiner Freizeit intensiv mit Extremwetter-Ereignissen und engagiert sich bei Organisationen wie Skywarn und ESSL. Zusammen mit Mitstreitern hat Feuerstein den Genzmer-Bericht vor Jahren in der Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin aufgespürt und für das Internet aufbereitet. "Der Bericht liefert eine hervorragend detaillierte Beschreibung des Ereignisses, die auch heutigen Maßstäben noch gerecht wird. Es gibt keinen Verweis auf ein übernatürliches Geschehen. Genzmer geht sehr empirisch vor. Es geht um Fakten, eine Beschreibung des Ereignisses, weniger um eine Erklärung", erklärt Feuerstein. Sävert pflichtet ihm bei: "Das ist bei einem Tornado solcher Stärke einzigartig. In der Zeit Ende des 18. Jahrhunderts - eine Zeit, aus der wir sehr wenig wissen - ist das sehr selten."

Zwischen nüchterner Empirie und spekulativer Verklärung

In jener Zeit steckten die Naturwissenschaften noch in den Anfängen. Das Bildungsniveau der meisten Menschen war niedrig. Doch gerade unter den Geistlichen gab es Vorreiter der Naturwissenschaft wie Genzmer. Zeugnisse über Tornados gibt es entsprechend wenige. Dafür umso mehr Spekulation und Verklärung. So ist beispielsweise eine Wasserhose, die 1792 durch das Städtchen Crivitz bei Schwerin zog und dabei einen See überquerte, als "Crivitzer Fischregen" in den Volksmund eingegangen. Eine "Windsbraut" sei über den Ort getobt, habe das Wasser aus dem See gesogen und es über der Stadt Fische regnen lassen, heißt es.

Späte Entdeckungen

Viele Tornados bleiben im Gegensatz zu breiträumigen Orkanstürmen einer größeren Öffentlichkeit unbekannt - nicht zuletzt wegen ihrer vergleichsweise kurzen Lebensdauer und Kleinräumigkeit. Ein Tornado der Stärke F4, der 1979 im brandenburgischen Bad Liebenwerda die Mähdrescher einer LPG durch die Luft wirbelte, konnte von Sävert und Feuerstein erst vor Kurzem nach langen Recherchen als solcher klassifiziert werden. Einem anderen spektakulären Fall ist Sävert gerade auf der Spur. In einer Chronik der niedersächsischen Stadt Cuxhaven fand er den Hinweis, dass der Vorort Groden im Juni 1756 von einer Sturmflut zerstört wurde. Eine Sturmflut im Juni? Sävert wurde stutzig, forschte nach und stieß im Stadtarchiv auf einen Bericht, in dem eine Windhose für das Ereignis verantwortlich gemacht wird. Nun sucht er nach weiteren Dokumenten, die nähere Aufschlüsse zulassen.

Vorhersagen begrenzt möglich

Trotz wissenschaftlicher Erforschung und einer immer umfassenderen Dokumentation sind längst noch nicht alle Geheimnisse um die Entstehung von Tornados gelüftet. "Starke Aufwinde sowie die Änderung von Windrichtung und -geschwindigkeit mit zunehmender Höhe sind wesentliche Faktoren für das Entstehen von Tornados", sagt Sävert. Meistens treten Tornados im Umfeld von Gewittern auf: "Entweder im Bereich von Superzellen - das sind vereinfacht gesagt langlebige Gewitter mit rotierendem Aufwind - oder auch in normalen Gewittern oder kräftigen Schauern." Das erklärt, warum Tornados häufiger im Sommer als im Winter auftreten. Anhand der Schilderungen in Genzmers Bericht weiß man, dass der Woldegker Tornado aus einer Superzelle hervorgegangen ist. Eine präzise Vorhersage von Tornados ist allerdings schwierig: "Man kann im Vorfeld nur das Risiko abschätzen, dass Tornados auftreten können. Kurzfristig sind aber Warnungen vor Tornados begrenzt möglich. Dies gilt etwa dann, wenn sich ein Tornado im Bereich einer Superzelle bildet. Die Vorwarnzeit beträgt dann nur wenige Minuten bis höchstens 20 Minuten. Das reicht aber aus, um Menschenleben zu retten."

Schwere Tornados in Mecklenburg-Vorpommern

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | 27.06.2014 | 19:15 Uhr

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