Wie überlebt es sich eigentlich in Island?
Warum soll man ein Buch über Island lesen, vor allem wenn man noch nie da war und womöglich auch nie hin will? Erstens weil Sarah Moss richtig gut schreiben kann. Zweitens weil man sich am Ende selbst in Norddeutschland als sonnenverwöhnter Südeuropäer fühlt. Drittens weil man tolle Sachen über ein ziemlich fremdes Land erfährt. Das ist interessant - und witzig:
Max gibt mir eine Broschüre, in der Air Iceland freundlich darüber Auskunft gibt, was "Gut zu wissen" ist:
Wenn Sie auf Inlandsflügen Schusswaffen bei sich tragen müssen, brauchen Sie dafür keine Genehmigung. Beim Check-in wird ein Angestellter von Air Iceland die Schusswaffe überprüfen und sicherstellen, dass sie nicht geladen ist. Sämtliche Munition muss getrennt von der Waffe aufbewahrt werden. Das Gewicht der Munition darf 5 kg nicht übersteigen.
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Und beim Einchecken muss man noch nicht einmal einen Pass vorzeigen. Aber die Britin Sarah Moss lernt schnell, dass man in Island keine Angst vor Mitreisenden mit Waffen und Munition haben muss. Hier lassen die Menschen ihre Babys im Kinderwagen vor dem Café stehen, niemand randaliert auf Spielplätzen, niemand schließt sein Auto ab.
In Island ist es wirklich kalt und dunkel
Das Island-Jahr von Familie Moss beginnt im Juli, zum Glück. Denn schon im September müssen die Isländer die Winterklamotten rausholen, der erste Schnee fällt Anfang Oktober. Nachdem sie sich tapfer drei Monate lang mit dem Buggy über das Lavafeld gequält haben und praktisch als einzige die wenigen Busse genutzt haben, steht nun fest: Ein Auto muss her - aber erst mal muss man ins Autohaus kommen.
Wir nehmen zwei verschiedene Busse und gehen den letzten Kilometer zu Fuß, an einer vierspurigen Straße entlang, die durch das Industrieviertel führt. Vom Meer ist ein Schneesturm herangezogen, wir klammern uns aneinander, als wir uns dem Wind entgegenstemmen, der mir die Jacke vom Körper zerrt und uns Eissplitter ins Gesicht schleudert. Ich schlage vor, dass wir im ersten Autohaus eine Probefahrt mit irgendeinem Wagen machen und mit diesem dann zu den anderen fahren. Leseprobe
Kein Wunder, dass die Einheimischen im Winter ihre gut beheizten Häuser nicht verlassen. Familie Moss fällt allerdings bald die Decke auf den Kopf. Sarah und ihr Mann haben sich nur provisorisch eingerichtet, kaum Bücher und Spielzeug für die Kinder mitgebracht. Während der langen dunklen Wintermonate sind Schwimmbad und Zoo das einzige Freizeitangebot. Und trotzdem fühlt die Familie sich wohl.
In Island gibt's die schlimmsten Autofahrer der Welt
Sarah gibt Kurse an der Uni und versucht so viel wie möglich über Land, Leute und ihre Geschichte zu erfahren. Was ist Islands Antwort auf die Krise, kann Blutpudding Obst ersetzen, warum mögen die Isländer keine Second-Hand-Läden? Gibt es wirklich keine Kriminalität, was machen eigentlich Elfenexpertinnen - und wie kocht man mit einheimischen Produkten?
Im Supermarkt nehme ich eine Zellophanpackung in die Hand, in der sich meiner Meinung nach Rentierfleisch befindet. Erst als ich es zu Hause in den Kühlschrank lege, lese ich das Etikett richtig. Walfleisch. Was sollen wir machen, frage ich Anthony. Überleg mal, was unsere Freunde sagen würden, wenn sie wüssten, dass wir Wal essen Leseprobe
Sarah Moss bringt ihre feine britische Ironie in Nebensätzen unter - das Gegenteil der Holzhammer-Methode vieler deutscher Autorinnen. Nie macht sie sich über die Isländer lustig, eher verspottet sie sich selbst im Spiegel dieses fremden Landes. Manchmal mag man kaum glauben, dass sie gern länger dort geblieben wäre - wo der Straßenverkehr lebensgefährlich ist, das Wetter nur wenige Wochen im Jahr überhaupt erträglich und die Möglichkeiten begrenzt. Vielleicht muss man doch selbst mal hinfliegen und nachgucken. Wenn nicht gerade Vulkanasche über der Insel schwebt.
Bis dahin kann man nordische Exotik in diesem wunderbaren Buch erleben, das - typisch mare Verlag! - auch wunderschön aussieht. Allerdings hätte man sich als Leser über ein paar Fotos gefreut, vom Lavafeld, dem Elfen-Stein oder der Esja bei Sonnenaufgang. Als nächstes will Sarah Moss mit ihrer Familie übrigens nach Singapur gehen. Hoffentlich schreibt sie darüber.
Sommerhelle Nächte: Unser Jahr in Island
- Seitenzahl:
- 464 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- mare
- Bestellnummer:
- 978-3866481862
- Preis:
- 22,- €