Neues Familienmelodram von Jonathan Franzen
Jonathan Franzen wird von vielen als der größte lebende amerikanische Schriftsteller gesehen. Er ist überzeugt davon, dass das, was Menschen an Büchern interessiert, was sie neugierig auf die weitere Handlung sein lässt, mit Liebe zu tun hat und hofft, dass der Leser seine Figuren lieben wird. Aber ganz bestimmt geht es nicht ohne die Liebe des Autors zu seinen Figuren. Seinem neuen Roman "Unschuld" merkt man es an, dass Franzen für alle seine Figuren eine Menge Sympathie aufbringt.
Herkunft unbekannt
Purity ist der Name der eigentlichen Hauptfigur in diesem gewaltigen Epochen- und Familienmelodram: Sie lässt sich lieber mit ihrem Spitznamen Pip ansprechen, ist 23 Jahre alt, hat einen College-Abschluss, aber keinen guten Job und weiß noch nicht, wie sie ihr Studentendarlehen jemals abbezahlen kann.
Immer mal wieder hatte sie das Bedürfnis, sich in der umstandsbedingten Zwangsjacke, in der sie sich zwei Jahre zuvor wiedergefunden hatte, zu strecken, um herauszufinden, ob sie in den Ärmeln jetzt vielleicht ein wenig nachgab. Und jedes Mal saß sie genauso stramm wie eh und je. Noch immer war Pip mit 130.000 Dollar verschuldet, noch immer war sie der einzige Trost ihrer Mutter. Lesprobe
Pip lebt nicht nur am Existenzminimum, ihre Mutter enthält ihr auch ihre Herkunft vor. Pip weiß weder, wer ihr Vater ist, noch welcher Familie ihre Mutter entstammt.
Jonathan Franzen räumt ein, dass er die unbewältigten Traumata im neuen Werk ziemlich extrem gestaltet. Die leicht zu beschreibenden Konflikte habe er schon aufgebraucht, so Franzen, daher seien nur noch die verschütteten und schwer zu lösenden übrig, die ihm selbst Unbehagen bereiten. Die Arbeit bestehe also zunehmend darin, glaubwürdige Romanfiguren zu erschaffen, in die er sich auch hineinversetzen könne.
Kunstvoll konstruierte Geschichte
Eine weitere zentrale Figur, der Ostberliner Andreas Wolf, Sohn eines Staatssekretärs der DDR, hat als junger Mann einem 15-jährigen Mädchen dabei geholfen, ihren übergriffigen Stiefvater zu beseitigen, weil ihnen Mord das einzig wirksame Mittel gegen einen Stasi-Mitarbeiter zu sein schien.
Nach dem Fall der Mauer begegnete Andreas Wolf dem Amerikaner Tom Aberant. Ihm vertraute er sein Geheimnis an, und dieser half ihm dann, letzte Spuren des Verbrechens zu beseitigen. Inzwischen ist Tom der Chefredakteur eines erfolgreichen Online-Nachrichtenmagazins, und Andreas leitet ein Whistleblower-Projekt in Bolivien.
Als der Land Cruiser um die Kurve bog und Andreas seinen alten Freund sah, lächelte er. "Tom", sagte er herzlich und streckte die Hand durch das Beifahrerfenster. Tom musterte die Hand stirnrunzelnd, offenbar eher überrascht als verärgert. Er trug ein Khakihemd wie die Gringo-Journalisten. (...) "Ach, komm. Nun schlag schon ein." (...) "Ich bin nicht hier, um dir einen Gefallen zu tun. (...) Wie hast du sie gefunden?" "Bilderkennung. Die Software ist so primitiv, dass mein Versuch eigentlich zum Scheitern verurteilt war. Aber wie du weißt, regeln die Dinge sich bei mir meistens zum Besten." "Du kommst sogar ungestraft mit einem Mord davon." "Genau!" Leseprobe
Im Lauf dieses äußerst kunstvoll konstruierten und dabei süffig zu lesenden 830-Seiten-Romans verknüpfen sich peu à peu die Fäden zwischen Pip in Oakland, Kalifornien, Tom in Denver, Colorado, und Andreas in Los Volcanes, Bolivien.
Mit Hoffnung auf glücklichere Lebenswege
Es versteht sich von selbst, dass Pip nicht aus Versehen so heißt wie der Held in Charles Dickens' Roman "Große Erwartungen". Sie wird feststellen, dass sie nach Strich und Faden an der Nase herumgeführt wurde.
Aber in der Essenz gibt Franzens Roman Hoffnung, dass im 21. Jahrhundert eine weniger schuldbeladene Generation für sich weitaus glücklichere, positivere Lebenswege zu gestalten weiß. Die vom totalitären Zeitalter beschädigten Individuen, die auch ihre Privatsphäre in der Lüge ersticken, haben ausgedient.
Unschuld
- Seitenzahl:
- 832 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Rowohlt
- Bestellnummer:
- 978-3-498-02137-5
- Preis:
- 26,95 €