Das Cover von Leslie Jamisons "Es muss schreien, es muss brennen" © Hanser Literaturverlage

"Es muss schreien, es muss brennen": Essays von Leslie Jamison

Stand: 16.05.2021 14:08 Uhr

In ihrem zweiten Essayband beschreibt Leslie Jamison unterschiedlichste Themen vom "einsamsten Wal der Welt" bis zum "Second Life".

von Lisa Kreißler

Leslie Jamison lebt in New York. Dort arbeitet sie als Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben. "Die Empathie-Tests" war 2015 der Titel ihres ersten Essaybandes. Das Buch der 1983 geborenen Amerikanerin hatte weltweit Erfolg. Leslie Jamison wurde mit den großen Essayistinnen Susan Sontag und Joan Didion verglichen. In "Die Empathie-Tests" forscht Jamison mit einer Mischung aus autobiografischer Erzählung und Reportage nach den Grenzen ihrer Einfühlung in andere Menschen.

Wal "52 Blue" ist mehr als nur Projektionsfläche

Neben Moby Dick gibt es einen zweiten Wal, der es zu weltweitem Ruhm gebracht hat: 52 Blue. Dieser Wal fiel Forschern Anfang der 90er-Jahre auf, weil er auf der Frequenz von 52 Hertz sang, lauter als alle seine Artgenossen - und damit nicht in der Lage, mit ihnen zu kommunizieren.

Als "der einsamste Wal der Welt" wurde er schnell zu einer beliebten Projektionsfläche einsamer Menschen. Zum Beispiel von Leonora, die nach einer langen Zeit im Koma, eine innige Verwandtschaft zu 52 Blue verspürte.

Als sie den Gesang von 52 zum ersten Mal gehört habe, erzählte Leonora, habe sie ihn mindestens fünfzig Mal abgespielt. Einmal hatte sie geträumt, sie würde mit 52 schwimmen: Er war mit der Herde unterwegs, nicht mehr allein und Leonora schwamm mit ihnen, mit gefühlten 180 Stundenkilometern - mit riesigem Kopf und einem geschmeidigen, haarlosen Körper. Buchzitat

"Es muss schreien, es muss brennen": Demontage des Wahrheitsbegriffs

In ihrem neuen Essayband greift Leslie Jamison auf die Methode zurück, die sie in ihrem ersten Band "Die Empathie-Tests" mit großer Lebendigkeit entwickelt hat: Sie bewegt sich aus unterschiedlichen Richtungen auf ein Thema zu. Der einsamste Wal der Welt und die Koma-Patientin Leonora begegnen einander in der Frage: Was passiert, wenn wir uns mit Naturphänomenen identifizieren? Tun wir ihnen Gewalt an oder decken wir eine in Vergessenheit geratene Verwandtschaft auf?

Leslie Jamisons Antworten lesen sich wie vorübergehende Laborergebnisse. Kaum hat sie eine Hypothese aufgestellt, stellt sie sie auch schon wieder in Frage. Diese Demontage des Wahrheitsbegriffs erweist sich beim Lesen der sehr unterschiedlichen Texte als verbindendes Element.

Seit der Erforschung der kleinsten Teilchen und der Entdeckung der fernsten Orte geht es nicht mehr um das Streben nach Extremen, sondern um die Erfassung all dessen, was dazwischenliegt. Buchzitat

Reinkarnation und "Second Life" auf dem Prüfstand

Die ersten Essays bewegen sich noch nah an der Reportage entlang. Anhand der dramatischen Schicksale einzelner Personen diskutiert Leslie Jamison Reinkarnation oder die verführerische zweite Wirklichkeit des einst so populären Computerspiels "Second Life".

In dem Augenblick, in dem man sich als Leserin fragt, ob die Themen nicht zu reißerisch sind und Jamison die Menschen, über die sie schreibt, nicht auf unmoralische Weise für ihre Zwecke nutzt, wendet sich die Autorin genau dieser Frage zu.

In meinem Leben als Schriftstellerin habe ich lange versucht, dem Rat der Dichterin C.D. Wright zu folgen und mich zu bemühen, die Menschen so zu sehen, "wie sie gesehen werden wollen, als ihr höheres Selbst". Aber es ist ein unmöglicher Traum. Aus dem Leben anderer Menschen Kunst zu machen, heißt immer, sie zu sehen, wie du sie siehst, nicht zu spiegeln, wie sie gesehen werden möchten. Buchzitat

Das Zitat stammt aus einem der schönsten Essays in dem Band. In "Maximale Belichtung" verschränkt Leslie Jamison das Projekt der Fotografin Annie Appel, die 25 Jahre lang die gleiche mexikanische Familie fotografierte mit ihrer eigenen schriftstellerischen Tätigkeit, ihrem Ringen um maximale Ehrlichkeit bei maximaler Demut. Das bedeutet für Leslie Jamison auch immer, sich selbst zu zeigen.

Leslie Jamison öffnet ihr Herz weit

Wunderschön ist, wie der Band chronologisch von der Reportage über die Reflexion der schriftstellerischen Methode im Erzählen der eigenen Liebesautobiografie ankommt. Am Ende von "Es muss schreien, es muss brennen" nimmt Leslie Jamison uns mit in das "Museum der zerbrochenen Beziehungen", auf ihre Hochzeit in Las Vegas und in den Kreißsaal. Dabei öffnet sie ihr Herz so weit, dass es beim Lesen wehtut.

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Es muss schreien, es muss brennen

von Leslie Jamison
Seitenzahl:
320 Seiten
Genre:
Essays
Verlag:
Hanser Berlin
Bestellnummer:
978-3-446-26790-9
Preis:
25,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 17.05.2021 | 12:40 Uhr

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