Cover von Julya Rabinowichs "Dazwischen: Wir" © Hanser Verlag

"Dazwischen: Wir" von Julya Rabinowich: Erschreckend aktuell

Stand: 18.03.2022 13:31 Uhr

Fünfeinhalb Jahre nachdem Julya Rabinowich in ihrem ersten Jugendbuch "Dazwischen: Ich" die 15-jährige Madina über das schwierige Ankommen in einem neuen Land berichten ließ, gibt es nun eine Fortsetzung: "Dazwischen: Wir".

von Lenore Lötsch

Eigentlich haben sie es doch geschafft, sind angekommen in der sicheren europäischen Bürgerlichkeit: Madina und ihre Familie. Sie haben eine kleine Wohnung im Haus ihrer besten Freundin Laura und auf dem Gymnasium ist Madina nicht mehr das komische Flüchtlingsmädchen, das Klamotten aus dem Altkleidercontainer trägt. Sie hat einen Freund - Markus, aber immer noch keine Jeans. Der Kampf gegen die langen Röcke ist einer, den sie noch führen muss. Diese schlaue Rebellin, die ihre Wurzeln trotzdem zu schätzen weiß. Jedenfalls an manchen Tagen.

Mein Vater würde das, was jetzt mein Alltag ist, zu keinem Zeitpunkt akzeptieren. Damals nicht und jetzt wohl auch nicht. Markus nicht. Laura nicht. Meine Kleider nicht. Alles mögliche nicht. Es gibt keinen Weg zurück. Ich habe das Seil durchgeschnitten mit derselben Entschlossenheit wie mein langes Haar, das mich mit meiner Vergangenheit verband. Und Papa ist auf der anderen Seite zurückgeblieben. Leseprobe

Wenn der Vater zurück in das Kriegsgebiet geht

Papa - das ist der große Verlust. Er hat ihr in jeder Sekunde ihres alten Lebens, bei jeder Wanderung, gezeigt, dass sie nach vorne blicken muss. Dann aber hat er selbst den Rückweg eingeschlagen. Er ist in das alte Leben, in das Kriegsgebiet, das für ihn Heimat ist, zurückgekehrt, um seinen Bruder zu retten. Einst arbeitete er dort als Arzt. Madina hat auf der Flucht als eine Art Krankenschwester ihrem Vater geholfen, schlimmste Verletzungen zu versorgen. In der neuen Heimat war er sprachlos, überfordert und wurde ungerecht.

Ich lasse das einfach mit dem Übersetzen. Überhaupt keinen Bock mehr darauf. Ich hab das für Papa gemacht. Zwei Jahre lang. Immer die Worte von einer Sprache in die andere weitergereicht. Von einem Menschen zum anderen. Ich war nur heißer Draht. Nur Überbringerin. Nur Gefäß für diese Sprachen. Ich war nie: Ich! Leseprobe

"Dazwischen: Wir": Tagebuch einer Problemlöserin

Julya Rabinowich erzählt Madinas Geschichte in Tagebucheinträgen mit zunächst sehr kurzen Sätzen. Das funktioniert am Anfang nur begrenzt. Man muss dem Buch etwa 20 Seiten geben, um den Tonfall aufnehmen zu können. Dann aber legt man dieses Jugendbuch nicht mehr aus der Hand. Der verschollene Vater, die depressive Mutter, der kleine Bruder, der im Kindergarten auffällt - und Madina muss für alle die Problemlöserin sein. Allein aber ist sie nicht: Sie hat ihre Freunde, eine Therapeutin, eine zunächst verknöchert wirkende Lehrerin, die ihr ständig Zusatzaufgaben gibt und sich am Ende doch als großer Schutzengel erweist. Immer wieder kommen die Erinnerungen der Flucht hoch. Der Krieg ist für Madina ein dunkles Nebelfeld, das Menschen, Tiere und Häuser aufsaugt im Aufleuchten von Explosionen. Aber er ist eben auch die schwer auszuhaltende Stille danach:

Diese Stille, in der man noch nicht wagt, sich umzusehen, was noch da ist und was weggerissen. Immer noch bricht das, was ich früher kannte, in das ein, was ich jetzt kenne. Ich hasse das! Ich hasse das! Ich will es aus mir raushalten mit Grenzpatrouille und Stacheldraht und großen Drachen statt Wachhunden. Die Drachen werde ich wirklich brauchen. Es soll weggbleiben, was mit mir früher war. " Leseprobe

Eine wunderbare Geschichte vom Mutigwerden

Als in der Kleinstadt rassistische Schmiererein auftauchen und immer donnerstags ausländerfeindliche Parolen vor Madinas Lieblingscafé gebrüllt werden, verzweifelt man an diesem Buch. Zu viel scheint die Autorin ihrer Heldin zuzumuten. Aber "Dazwischen: Wir" ist eben auch eine wunderbare Geschichte vom Mutigwerden. Madina findet Freunde mit Spraydosen, die ihr helfen, die Losungen zu übertünchen. Trotzig sind Madinas Sätze im Tagebuch, poetisch und pathosfrei, ironisch und wütend. Wer unter den vielen Jugendbüchern zu Flucht, Krieg und zum "Leben-zwischen-den-Welten" eines auswählen will für seine Kinder und Enkel ab etwa 14 Jahren, der sollte zu Julya Rabinowichs Roman greifen - und ihn selbst lesen, um über Generationsgrenzen hinweg ins Gespräch zu kommen.

Dazwischen: Wir

Seitenzahl:
256 Seiten
Genre:
Jugendbuch
Zusatzinfo:
Empfohlen ab 14 Jahren
Verlag:
Hanser Verlag
Veröffentlichungsdatum:
24. Januar 2022
Preis:
17 Euro €

Dieses Thema im Programm:

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