Buchcover: Martin Walser, Cornelia Schleime: "Das Traumbuch. Postkarten aus dem Schlaf" © Rowohlt Verlag

"Das Traumbuch": Einblicke in Martin Walsers Seelenleben

Stand: 23.03.2022 14:37 Uhr

Gerne beschenkt sich Martin Walser zum Geburtstag mit einem Buch. Zu seinem 95. Geburtstag sind es Träume, die er protokolliert hat. Wieder sind es Bilder, die mit seinen Texten korrespondieren, diesmal von der Berliner Künstlerin Cornelia Schleime.

von Claudia Christophersen

Kann man schreiben, während man träumt? Kann man träumen, während man schreibt? Darüber kann man nachdenken und darüber kann man schreiben. Martin Walser macht das, lässt Sequenzen aus der Vergangenheit aufblitzen: die erotischen Sehnsüchte, die bleibenden Verletzungen und Traumata einer Schriftstellerlaufbahn. In seinen Traumtexten blättert Walser die ganze Partitur seines langen Lebens auf, fast eine Jahrhundertgeschichte. Und er will die Träume stehen lassen, keine Analyse, keine Interpretation:

Meine Träume müssen nicht gedeutet oder gar nach den billigsten Schlüsseln übersetzt werden, sie sind mir lieb und wert, so wie sie vorkommen. Sie sind mir deutlich genug. Leseprobe

"Postkarten aus dem Schlaf": Illustrationen von Cornelia Schleime

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Martin Walser © picture alliance/dpa Foto: Felix Kästle

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Zu seinen Traumtexten hat Martin Walser die Berliner Künstlerin Cornelia Schleime gebeten. Als Co-Autorin hat sie seine Träume illustriert. "Postkarten aus dem Schlaf" heißt der Untertitel des gemeinsamen Traumbuches. Auf Postkarten sind im realen Leben Idealmomente festgehalten. Landschaften, Orte nicht selten, mit idyllischer, verschönter Note. Cornelia Schleime hat neuralgische Momente aus Walsers Traumwelten kraftvoll künstlerisch in Angriff genommen. Nichts aus dem Seelenleben des Schriftstellers hat sie ausgelassen: quälende Erinnerungen, Begegnungen, Fehden, die Walser führte - unausgesprochen, ausgesprochen.

Dennoch: Walsers Traumseele vergisst nicht, ist nachtragend, ruhelos. Die Gefechte von einst sind nicht zu Ende. Kritiker, Rivalen, Konkurrenten, die den Träumenden bleibend verunsichern, ihn beschämen und nicht loslassen:

Um 18 Uhr vor einem Philosophenkongress ... Im Freien, auf einem weiten Platz, saß schön schlank und eher verträumt Jürgen Habermas. Er nahm keine Notiz davon, dass ich an ihm vorbeiging. Drinnen fehlte mir das Manuskript. Eine elende Sucherei beginnt. … Das, was ich wollte, habe ich nicht. … Und ich glaube nicht daran, dass ich frei sprechen kann, es würde sich nicht lohnen, mir zuzuhören. Leseprobe

Gnadenloser Blick auf ein langes Leben

Ängste eines Schreibenden, Ängste eines Mannes, der in der Öffentlichkeit steht, sich der Kritik ausgesetzt sah und sieht. Ende der 1970er-Jahre, zum 50. Geburtstag von Jürgen Habermas, muss sich Walser öffentliche Schmach gefallen lassen. Vor versammeltem Festpublikum fällt ein Text Walsers durch. Zuvor rezensiert Marcel Reich-Ranicki seinen Roman "Jenseits der Liebe" und urteilt: "Jenseits der Literatur". Belanglos, schlecht, miserabel. Nicht lohnend, "auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen". Walser war geschockt und es sind diese Sätze, die sich tief in Kopf und Seele eingegraben haben.

Der Alptraum ist körperlich bestimmt. Aber man hat im Gedächtnis einen Vorrat von allem. Man kann jeden körperlichen Vorgang bebildern, und mit Bebildern fängt der Traum an, danach wird er fast selbständig. Leseprobe

So gelesen ist Walsers Traumbuch ein aufwühlendes Dokument. Walsers Seelenleben ist unsortiert, tief verwundet. Der Blick auf ein langes Leben ist gnadenlos. Der alte Dichter ist müde und der Schlaf womöglich der Schauplatz letzter Rückzugsmomente.

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Martin Walser ©  picture alliance / dpa Foto:  Felix Kästle

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Das Traumbuch. Postkarten aus dem Schlaf

Seitenzahl:
144 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Rowohlt
Bestellnummer:
978-3-498-00319-7
Preis:
24,00 Euro €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 24.03.2022 | 12:40 Uhr

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