Stand: 27.02.2018 12:10 Uhr

"Große Gereiztheit" ist täglich live erlebbar

von Charlotte Voss, NDR Info

Eilmeldung, Terrorwarnung, Skandalgeschichten, Gerüchte - all dies verbreitet sich heute übers Internet in Windeseile. Aber können wir damit umgehen - inhaltlich und emotional? Nein, sagt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen von der Universität Tübingen in seinem jüngsten Buch "Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung".

Cover des Buches "Die große Gereiztheit" von Bernhard Pörksen. © Hanser Verlag
Das Buch "Die große Gereiztheit" von Bernhard Pörksen ist im Hanser Verlag erschienen.

"Das Netz ist ein wunderbares Medium. Wir leben in einer Zeit des Informationsreichtums, aber auch in einer Zeit permanenter Verstörung. Ich behaupte, Vernetzung heißt Verstörung. Wir sehen andere Welten, andere Realitäten sofort, unmittelbar und direkt."

Schönes, Lustiges, Trauriges, Gewaltsames und Brutales - all das trifft uns laut Pörksen völlig unvorbereitet - und stürzt unser bisheriges Ordnungssystem in unterschiedliche Krisen.

Ein Blick von oben aufs Internet

Wahrheits-, Diskurs-, Autoritäts-, Behaglichkeits- und Reputationskrise - so heißen die ersten fünf Kapitel in seinem Buch. In ihnen wirft der Medienwissenschaftler, der sich seit Jahren mit unserem Umgang mit Medien beschäftigt, einen Blick von oben auf das Internet - und damit auch auf uns: "Ich glaube, wir leben in einer Übergangsphase. In einer Phase der mentalen Pubertät im Umgang mit den neuen Medienmöglichkeiten. Und wir müssen lernen, medienmündig zu werden."

Und warum genau diese Medienmündigkeit so wichtig ist, versucht der Autor in seinem Buch zu erklären. Kommunikation sei blitzschnell, barrierefrei und kombinierbar geworden. Mit ihr seien und Stimmung zu machen - auch politische.

Neue Medien greifen an - und machen angreifbar

Nicht immer hätten die Verantwortlichen Gutes im Sinn. Dies verdeutlicht Pörksen anhand bekannter Fälle aus jüngerer Vergangenheit - wie zum Beispiel der angeblichen Vergewaltigung einer 14-jährigen Russin in Berlin, die sich als erfunden entpuppte, zwischenzeitlich aber für Spannungen im deutsch-russischen Verhältnis gesorgt hatte.

Pörksen berichtet von Schulkindern und Reisenden, die unbedarft ein privates Foto oder einen missverständlichen Kommentar gepostet hatten - und damit eine Welle der Beschimpfung, besser bekannt als "Shitstorm“, auslösten.

Nicht zuletzt analysiert der Autor, wie angreifbar Prominente - vor allem Politiker - durch die neuen Medien geworden sind.

"Wer dauerhaft unangreifbar sein will, der müsste sich mutwillig in ein einsames, medial gänzlich unzugängliches Tal flüchten, sich also in ein geschlossenes Kommunikationssystem mit einem strikt beherrschbaren Publikum einigeln, das jedoch im digitalen Zeitalter nicht mehr existiert." Zitat aus dem Buch "Die große Gereiztheit"

Art der Kommunikation wird immer aggressiver

Dieses Buch kann getrost als Warnung verstanden werden. Als Warnung davor, dass unsere Art zu kommunizieren aggressiver wird, sich stetig verschärft. Was uns wieder zum Titel des Buches führt. "Die große Gereiztheit" ist in den Augen des Autors bereits täglich live erlebbar: "Wir erleben sie an der Eskalation von Debatten. Wir erleben sie, wenn wir uns anschauen, wie eine Diskussion im Netz sich zum großen Streit auswächst und Menschen sich auf aggressivste Weise beschimpfen und aus dem Dunkel der Anonymität heraus attackieren."

Laut Pörksen hat das Internet uns zu einer redaktionellen Gesellschaft gemacht, in der jeder Sender sein kann. Und das führe zum sogenannten Clash of Codes, dem Aufeinanderprallen von unterschiedlichen Systemen zur Deutung von Wirklichkeit.

Pörksen legt den Finger in die Wunde

Als Wissenschaftler ist Pörksen in der Position, Lösungen vorzuschlagen, sie aber nicht umsetzen zu müssen. Deshalb kann er ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten auch den Finger in die Wunde legen und uns alle in die Pflicht nehmen.

"Man muss sich die Frage stellen, wie man selbst die eigenen Werte und Normen vertritt, ohne andere, die plötzlich so irrwitzig nahe gerückt sind, unnötig zu verletzen." Zitat aus dem Buch "Die große Gereiztheit"

"Medienmündigkeit" als Schulfach?

Wie aber können wir die Pubertät in puncto Medienmündigkeit überwinden, die uns Pörksen attestiert und die er für die Grundgereiztheit unserer Gesellschaft verantwortlich macht? Immerhin verspricht der Untertitel seines Buches nicht weniger als "Wege aus der kollektiven Erregung".

"Wir könnten es lernen, durch ein eigenes Schulfach, das Medienmündigkeit auf der Höhe der Zeit trainiert. Wir könnten es lernen, indem der Journalismus sich öffnet, indem der Journalismus die Aufklärung über die Spielregeln der eigenen Branche als eine Art Zweitjob begreift. Und wir könnten es lernen, indem auch die Plattformen, die Plattformbetreiber Google, Facebook, die sozialen Netzwerke wirklich offen legen, wie sie Öffentlichkeit verändern."

"Auch mal abschalten"

Und was ist sein Rezept, um den Kopf klar zu bekommen zwischen all den Informationen, die auf ihn einprasseln? Pörksens Antwort darauf lautet so: "Praktiziere, gelegentlich zumindest, auch einen selbstbewussten Autismus, eine selbstbewusste Ignoranz. Auch mal abschalten, um sich dann umso engagierter wieder zuschalten zu können. Das wäre so etwas wie ein Rezept."

Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung

von Bernhard Pörksen
Seitenzahl:
256 Seiten
Genre:
Sachbuch
Verlag:
Hanser
Veröffentlichungsdatum:
19.02.2018
Bestellnummer:
9783446258440
Preis:
22,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Buchtipp | 26.02.2018 | 10:20 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Sachbücher