"Offene Wunden Osteuropas": Kaum bekannte Altlasten des Zweiten Weltkriegs
Franziska Davies und Katja Makhotina reisten für "Offene Wunden Osteuropas" an Erinnerungsorte des Zweiten Weltkrieges. Das Buch stand auf der Shortlist für den NDR Sachbuchpreis.
Immer im ersten Seminar des Semesters haben die Osteuropa-Historikerinnen Franziska Davies und Katja Makhotina ihre Studentinnen und Studenten gefragt, warum die gerade dieses Seminar ausgewählt haben: eines über den zweiten Weltkrieg in Osteuropa. Immer war die Antwort: "Wir wissen wenig bis nichts darüber!" Es war der Anstoß für ein Sachbuch, das zu den aufregendsten dieses Jahres gehört und brennend aktuell ist.
Korjukiwka: Ukrainisches Symbol für Vernichtung nicht-jüdischer Zivilbevölkerung
Lange gab es nicht einmal einen deutschen Wikipediaeintrag zu dem Dorf Korjukiwka. In der ukrainischen Erinnerungskultur ist es das Symbol für die Vernichtung der nicht-jüdischen Zivilbevölkerung während der deutschen Besatzung: 7.000 Menschen wurden ermordet innerhalb von zwei Tagen, das Dorf wurde mit allen 1.340 Gehöften verbrannt.
Wer hat schon einmal von Belzec gehört? Einem Ort im Osten Polens, in dem die SS mit ihren Helfern etwa eine halbe Million Menschen systematisch ermordete?
"Offene Wunden Osteuropas": Reiseführer in den unbekannten Osten
Man könnte nun denken, das Buch "Offene Wunden Osteuropas" sei eine einzige Landkarte der Grausamkeiten. Aber es ist viel mehr. Katja Makhotina erklärt: "Wenn man an die konkreten Orte geht, gibt es da konkrete Menschenschicksale. Dann ist die Frage. Was wissen wir von den Geschichten? Das sind keine reflektierten superintellektuell geschriebenen Lagerzeugnisse. Das sind Menschen, die in ihrer sehr, sehr einfachen Bauernsprache sprechen." Es sei natürlich schwer, das als Buch herauszugeben. "Wer will das schon lesen? Aber das muss da sein, das muss existieren. Diese Stimmen haben lange gefehlt und fehlen bis heute, weil nicht so viel übersetzt ins Deutsche und ins Englische ist. Das ist die Leerstelle," so Makhotina.
Multiperspektivisches Sachbuch von Katja Makhotina und Franziska Davies
Die beiden Osteuropahistorikerinnen füllen aber noch viele andere Leerstellen. Denn ihr Buch ist konsequent multiperspektivisch: Es verfolgt auch die Lebenswege der deutschen Täter, hinterfragt die Geschichten vom Kult des Ausharrens bei Stalingrad und schaut auf deutsche Friedhöfe, wo sich, meist in der Nähe der Müllplätze, die Gräber der Zwangsarbeiter befinden.
Immer noch sind es die "Russengräber": "Warum ist es so, dass die Sowjetunion immer noch als Russland präsent ist? Das hat mit dieser kulturellen Tradition zu tun, als die Wehrmacht in diesen Ländern da war. Sie hat die Multinationalität dieses Gebietes absolut ignoriert. Das war den Menschen egal. Man sammelte Sachen, die man geraubt hat und schickte das zu Weihnachten nach Hause aus Charkiw und schrieb: 'Wir sind jetzt im blöden Russland.'"
Reportagen aus Warschau, Stalingrad, Minsk, Lwiw und Babyn Jar
Die beiden Osteuropahistorikerinnen erzählen in ihrem Reportageband von Reisen, die sie mit ihren Studentinnen und Studenten nach Warschau und Minsk, Lwiw und Babyn Jar gemacht haben.
Sie zeigen den Kampf um Gedenkorte, die Überschreibungen, die alten und neuen Konflikte, die Opferkonkurrenz: Babyn Jar beanspruchen sowohl die ukrainisch-jüdische Erinnerung als auch die national orientierte ukrainische Erinnerung als Ort "ihrer" Opfer.
Buch vor Angriffskrieg Russlands auf Ukraine geschrieben: Ergänzungen im Vorwort und im Epilog
Katja Makhotina und Franziska Davies haben ihr Buch vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine geschrieben und es dann um ein Vorwort und einen Epilog ergänzt. Darin erzählen sie, dass es ihnen nun unangemessen erscheint, ein Buch zu publizieren, in dem es auch um die dunklen Seiten der ukrainischen Geschichte geht. Und doch: Sie leuchten sie aus, sie bleiben nie im Schwarz-Weiß der oberflächlichen Erinnerungskultur.
Franziska Davies erläutert: "Oft schauen wir nur auf nationale Diskurse, auf die Art, wie jetzt ein Putin beispielsweise die Geschichte missbraucht und pervertiert." Wenn man an die Orte ginge, stelle es sich manchmal anders dar. Wer zum Beispiel nach Lwiw reise, könne sehen: "Es gibt da nicht nur Bandera-Statuen. Es gibt auch neue Denkmäler für die jüdische Gemeinde. Es gibt da Orte der polnisch- ukrainischen Versöhnung. Wenn man sich das lokal anschaut, wird’s meistens komplexer!"
Fakten über in Deutschland lange ignorierte europäische Geschichte
Die beiden Autorinnen bereiten in ihren lebendigen Reportagen akribisch die Fakten auf, geben Literatur- und Filmempfehlungen, und sie bleiben keine nüchternen Wissenschaftlerinnen, sondern leisten sich wohldosiert Emotionalität.
Auch die eigene Familiengeschichte fließt in die neun Kapitel ein. Der Gewinn dieses Buchs ist enorm: Es erzählt lange in Deutschland ignorierte europäische Geschichte und liefert die Fußnoten für das aktuelle Geschehen in Osteuropa.
Offene Wunden Osteuropas - Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs
- Seitenzahl:
- 288 Seiten
- Zusatzinfo:
- 11 Illustrationen, schwarz-weiß
- Verlag:
- wbg Theiss
- Veröffentlichungsdatum:
- 27. April 2022
- Bestellnummer:
- 978-3-8062-4432-8
- Preis:
- 28 Euro €