Stand: 10.05.2019 16:00 Uhr

Zwei einzigartige Naturfotografen

von Guido Pauling

Menschen, die leidenschaftlich gern Vögel fotografieren, gelten gemeinhin als Sonderlinge. "Ornis", wie sie manchmal genannt werden, reisen mit ihren Kameras scharenweise an einen Ort, an dem ein einziges, extrem seltenes Exemplar gesichtet worden ist, um dann einen Blick oder sogar ein Foto zu ergattern. Zwei besondere "Ornis" stellen wir vor.

Geduld ist eine wichtige Eigenschaft der Fotografen

Den Naturfotografen Wolfram Otto hat die Faszination für die Gefiederten seit Jahren gepackt. Er kann stundenlang im Neoprenanzug unter Grasbüscheln versteckt in einem Teich hocken, um eine perfekte Aufnahme zu machen. Der Künstler Jean-Luc Mylayne verbringt bei seiner Arbeit allein mit der Annäherung an ein Vögelchen mehrere Monate, bevor er es dann - allen Sehgewohnheiten zum Trotz - manchmal sogar unscharf ins Bild setzt. Hauptsache, die Komposition stimmt.

Bei dieser Aufnahme scheint einer alles falsch gemacht zu haben: Der Baumstamm in der Mitte trennt als dicker, schwarzer Schattenstrich die Fotografie in zwei Hälften. Scharfgestellt ist allein ein zerfetztes Büschel vertrockneter Gräser im Vordergrund; dagegen sind die sonnenverdorrte, grell beschienene Fläche im Hintergrund und ein entfernt stehender Laubbaum unscharf. Was soll man hier sehen? Da, halt: ein winziges Vögelchen, offenbar ein Kolibri schwebt links ins Bild. Nur als Schattenriss sichtbar, genau auf der Trennlinie zwischen Horizont und Himmel.

Bei Mylayne soll der Betrachter im Bild herumstreifen

Das Auge muss unablässig wandern auf den Bildern von Jean-Luc Mylayne und genau das will der Künstler. Die Betrachter wundern sich, runzeln die Stirn. Amateurhaft wirken diese Bilder. Man muss den Gedanken aufgeben, man habe es hier mit Naturfotografie zu tun. Der Schlüssel zu Künstler und Kunst liegt in der Bezeichnung "peintre-photographe" - Maler-Fotograf.

"Der Blick soll ins Bild gelenkt werden, um dort entdeckungslustig herumzustreifen. Immer wieder trifft das Auge auf sorgsam malerisch 'verwischte' Partien, welche die Dynamik erhöhen", erklärt Jean-Luc Mylayne. Dafür setzt er Linsen ein, die von Teleskopspezialisten handgeschliffen wurden, sodass ganz unterschiedliche partiell ausgerichtete Bildschärfen entstehen können."

Bei Fotograf Wolfram Otto zählt die Schärfe

Was für ein Gegensatz zu Wolfram Ottos Fotokunst! Schärfe ist hier alles. Der puschelige junge Waldkauz, bei dem sich jedes einzelne Federchen zählen ließe, so nah hat ihn der Zoom herangeholt. Der Zwergtaucher, der sein Junges mit einer weniger als ein Zentimeter großen Fliegenlarve füttert; die Szene sieht aus, als ob der Altvogel dem Küken eine Murmel übergibt. Schlichtweg grandios in der Klarheit sind Wolfram Ottos Bilder; einzelne Wassertropfen im Gefieder, die schmale Zunge des Schwarzspechts - alles sofort zu sehen.

Wildschöne Welten in Norddeutschland

von Wolfram Otto
Seitenzahl: 224
Genre: Bildband
Verlag: Hinstorff
Bestellnummer: 978-3-3560-21691
Preis: 38,00 €

"Nichts sofort zu sehen" lautet dagegen die künstlerische Devise Jean-Luc Mylaynes. Monatelang tüfteln er und seine Frau an einer Szene. Sorgen dafür, dass sich ein Vogel an das Paar gewöhnt, um die beiden nah genug an sich heranzulassen. Prüfen Lichtreflexe, beachten Winkelbildung kleinster Äste, schließlich, nach einem Vierteljahr: der Druck auf den Auslöser. Für das eine Bild, das nur als Unikat, als singulärer Abzug existiert. Wie ein Gemälde.

Mylayne geht es um das Künstlerische, Otto um die Klarheit

Gerhard Richter lässt grüßen mit Mylaynes farbigen, unscharfen Abstraktionen. "Das Alltägliche, das Gewöhnliche stößt auf das Wunderbare, die Epiphanie des herbeigeflatterten, kurzfristigen Besuchs", heißt es etwas pathetisch und doch treffend in Bice Curigers Begleit-Essay "Sein und Zeit" über Mylaynes Bilder.

Genial verbildlicht in "No. 341": Wie senkrechte Pinselstriche wirken die ausgeblichenen dürren Latten eines Holzzaunes, der sehr lückenhaft einen Vorgarten umzieht. Der Blick wandert durchs linke Bilddrittel über die Terrasse, durch flirrendes Blattgrün, kräftige Baumstämme entlang - erst spät fällt der kleine Vogel auf: ein Zaunkönig. Rechts im Bild sitzt er auf dem krummen Draht zwischen den Holzlatten; nur Hinterteil und Schwanzfedern ragen aus der Zaunlücke nach außen, den Rest verdeckt das Holz - oder doch nicht!

Mit einem Auge linst das Vögelchen durch eine zweite Lücke, die sich nahezu nadelfein senkrecht durchs Bild zieht; wie bei einem Renaissance-Gemälde der schmale Fensterstreif am Rand, der den Blick nach außen gewährt. Kein Zufall! "In jedem Tableau Mylaynes sind alle, auch die kleinsten Details präzise ausgesucht und voller Sinnzusammenhänge in Szene gesetzt."

So meisterlich in Wolfram Ottos Naturaufnahmen Klarheit waltet, so meisterlich handhabt Jean-Luc Mylayne die Unklarheit des Blicks. Die Kestner Gesellschaft in Hannover wird Mylaynes Bilder vom 6. März bis zum 10. Mai 2020 ausstellen.

Herbst im Paradies / The Autumn of Paradise

von Jean-Luc Mylayne
Seitenzahl:
128 Seiten
Genre:
Bildband
Verlag:
Hatje Cantz
Bestellnummer:
978-3-7757-4523-9
Preis:
30,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 12.05.2019 | 17:40 Uhr

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