Buchcover "Serge" von Yasmina Reza © Hanser Literaturverlage

"Serge": Yasmina Reza illusionsloser Blick auf den Menschen

Stand: 06.03.2022 17:29 Uhr

Yasmina Reza, äußerst erfolgreiche Autorin von Theaterstücken wie "Kunst" und "Der Gott des Gemetzels" sowie Romanen wie "Anne-Marie die Schönheit", setzt sich in ihrem neuen Roman "Serge" mit einem brisanten Thema auseinander.

von Anna Hartwich

Yasmina Reza hat es eigentlich nicht nötig, ihre Bücher zu bewerben. Sie erscheint nie öffentlich und gibt auch keine Interviews. Nun aber hat sie diese Distanz zu ihrem Publikum gleich mehrfach aufgehoben und setzte sich zur besten Sendezeit als einziger Gast in eine populäre Literatursendung im französischen Fernsehen. Der Grund: das Erscheinen von "Serge", ihrem jüngsten Roman. Darin greift die aus einer kosmopolitischen jüdischen Familie stammende Schriftstellerin ein brisantes Thema auf: Sie lässt vier Angehörige einer jüdischen Familie, die ohne ein Bewusstsein ihrer Herkunft aufgewachsen sind, nach Auschwitz und Birkenau reisen.

Die Familie besucht die Gedenkstätte in Auschwitz

Joséphine will nach Auschwitz. Mit ihrer Großmutter ist die letzte der Familie gestorben, die sie nach der Vergangenheit fragen kann. Das jüdische "Familienkuddelmuddel" hat kein Oberhaupt mehr und alle lebenden Verwandten sind assimiliert, sehr assimiliert, und zwar so, dass - vielleicht - nur ein Besuch der Gedenkstätte helfen kann, um die jüdischen Wurzeln wieder freizulegen. Meint Joséphine. Also überredet sie ihren Vater Serge, ihren Onkel Jean und ihre Tante Nana, mit ihr nach Auschwitz zu reisen. Dieses Unternehmen streift die Katastrophe, denn alle zanken sich und Serge streikt.

"Komm aus dem Auto, Papa, das ist die Judenrampe! Lasst mich in Ruhe. Fünfhunderttausend Deportierte sind hier angekommen. Mir egal. Das ist der schlimmste Ort der Welt, Papa! Ich werde hier von irgendwelchen Viechern angefallen. Dann steig aus! Nein! Ich möchte gern, dass wir uns das zusammen ansehen. Ich bleibe im Auto." Buchzitat

Ist die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau der geeignete Ort für das Gedenken an das Grauen des Holocausts? Dieses "blumenreiche", wohl aufgeräumte Städtchen mit den vielen Touristen in Freizeitkleidung, die für Selfies vor hübsch renovierten Wachhäuschen posieren? Auch der gutwillige, empathische Jean ist sich nicht sicher.

"Ich schwankte zwischen Kälte und dem Bemühen, etwas zu empfinden, womit man nur sein Wohlverhalten unter Beweis stellen will. Und ich denke, ist all dies 'Vergesst nicht!', sind all diese wilden Mahnungen zum Gedenken nicht zugleich auch Ausflüchte, um die Ereignisse zu entschärfen und sie guten Gewissens in der Geschichte zu entsorgen?" Buchzitat

Yasmina Reza wirft einen illusionslosen Blick auf den Menschen

In Frankreich haben diese luziden Gedanken der jüdischen Autorin Reza keine Kontroversen hervorgerufen. Vielleicht weil, wie in allen Büchern von Yasmina Reza, dieser Plot - die Reise - nicht allein ist und längst nicht alles. Die Suche nach der jüdischen Familienzugehörigkeit gelingt den Geschwistern Popper in Auschwitz nicht. Und die Auschwitz-"Farce", wie sie vom Verlag genannt wird, in der urkomische Dialoge den Ton angeben, ist eingebettet in das existenziellste aller Themen: unsere Vergänglichkeit.

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Peter Jordan, Regisseur © Peter Jordan

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Sehr berührend ist, wie die drei sich so fremden Geschwister Serge, Jean und Nana aneinander ihr Altern und ihre Einsamkeit wahrnehmen. Ihr Humor kann das unausweichliche Ende nur notdürftig kaschieren. Doch Yasmina Reza weiß auch einen Trost. Die stärksten Momente des Buchs sind die, in denen sich das Mitleid meldet, die Empathie von Mensch zu Mensch, das Wissen um das Gespenst der Bedeutungslosigkeit, von dem wir alle verfolgt werden. Jeans bleibende Erinnerung an Auschwitz sind nicht die zahl- und namenlosen Toten, von denen die Gedenkstätte erzählt, sondern ein Bild von seiner Schwester Nana:

"Mir tun alle diese unnützen Waggons leid. Mir tut diese Frau mit allem ihrem guten Willen leid, die von weither gekommen ist mit ihrer roten Umhängetasche. Ganz klar erkenne ich in dieser Nacht unser geringes Gewicht, unser Garnichts." Buchzitat

Yasmina Reza wirft einen illusionslosen Blick auf den Menschen und urteilt nicht moralisch. Doch eine Erinnerung, die nicht mit einem selbst verbunden ist, muss folgenlos bleiben: Es kann alles wieder geschehen. Solche Gedanken in einem so unterhaltsamen Buch: Das ist große Kunst.

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Serge

von Yasmina  Reza
Seitenzahl:
208 Seiten
Genre:
Roman
Zusatzinfo:
Das Hörbuch wird gelesen von Peter Jordan und ist bei Hörbuch Hamburg erschienen.
Verlag:
Carl Hanser Verlag
Veröffentlichungsdatum:
24. Januar 2022
Bestellnummer:
9783446272927
Preis:
22,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 28.01.2022 | 12:40 Uhr

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