Die Liebe der Eltern zu ihren Kindern
Die britische Autorin Sarah Moss ist immer noch ein Geheimtipp in Deutschland. Sie schreibt ganz verschiedene Romane - historische, aktuelle und ganz persönliche wie "Sommerhelle Nächte". Ihr neues Buch "Gezeitenwechsel" ist wieder einmal ganz anders.

Sarah Moss schreibt in "Gezeitenwechsel" aus der Ich-Perspektive eines Familienvaters. Adam Goldschmidt arbeitet als Gelegenheitsdozent und beschäftigt sich mit der Rekonstruktion der Kathedrale von Coventry - vor allem aber kümmert er sich um den Haushalt und die beiden Töchter, während seine Frau Emma Karriere als Ärztin macht.
"Sie lebten in einem kleinen Haus, in dem es mehr Bücher gab als Platz in den Regalen, mehr Spielzeug als Platz in den Schränken, mehr Jacken als Garderobenhaken. Sie waren nicht immer zufrieden, aber sie waren nicht unglücklich. Er liebte seine Frau und hatte seit zwanzig Jahren keine andere begehrt. Er liebte seine Töchter und hatte sich noch nie gewünscht, dass sie anders wären." Leseprobe
Atemstillstand ohne Befund
Alles ist mehr oder weniger normal, bis Adam einen Anruf bekommt. Seine 15-jährige Tochter Miriam ist in der Schule umgefallen: Atemstillstand, niemand weiß warum. Miriam wird wiederbelebt und ins Krankenhaus gebracht, wo man der Sache auf den Grund gehen will. Ein allergischer Schock oder doch vielleicht ein Gendefekt?
Die Ärzte sind ratlos. Adam kann die Situation kaum aushalten. Die Ungewissheit, ob so etwas wieder vorkommen wird, und die plötzliche Gewissheit, dass das Leben auf einmal vorbei sein kann.
Zuversicht ausstrahlen trotz Ungewissheit
Dennoch muss Adam Miriam gegenüber Zuversicht ausstrahlen und zu Hause für die jüngere Tochter Rose den Alltag aufrechterhalten.
"Ich hatte auf dem Rand der Badewanne gesessen und dem Mama- und dem Papa-Gummischwein Stimmen verliehen (...). Ich hatte zwei Kapitel aus einem Buch vorgelesen, in dem es um ein missverstandenes Kind geht, das Trost in der Freundschaft mit einem sprechenden Dachs findet, und ich hatte 'Bridge Over Troubled Water' und 'Scarborough Fair' gesungen, diminuendo, bis Rose die Augen zufielen." Leseprobe
Als Mutter von zwei Kindern kennt sich Sarah Moss aus mit der Familienroutine. Wie schon in ihren Büchern "Schlaflos" und "Sommerhelle Nächte" webt sie ihre Alltagsbeobachtungen mit feiner britischer Ironie ein. Vielleicht hat sie sich für diesen Roman etwas zu viele Handlungsstränge vorgenommen: Miriams Gesundheitszustand, die Befindlichkeiten einer Familie und Adams Vergangenheit. Seit dem Unfall denkt Adam viel über seine Eltern nach, vor allem über die Dinge, die er lange verdrängt hat.
Ein anderes Leben
Irgendwie fügt Sarah Moss in all das die Geschichte der Kathedrale von Coventry ein. Die Autorin liebt Historisches und versteht es, fesselnd darüber zu schreiben. Dennoch gelingen ihr die besten Passagen, wenn es um die Liebe der Eltern zu ihren Kindern geht und das Entsetzen, wenn sie merken, dass es keine Garantie auf Unversehrtheit gibt.
"In der Teeküche öffnete die Mutter des blonden Jungen etwas, das in Folie eingepackt war. Ihre Hände zitterten. 'Es geht ihm nicht gut. Wir müssen auf die Intensivstation, sobald dort ein Bett frei ist. Die hat sein Vater mitgebracht. Pfannkuchen. Aber ich glaube nicht.' Sie hielt inne. Ihre Hände hielten inne. 'Ich glaube nicht, dass er sie jetzt isst.' Ich berührte sie nicht. Ich lächelte nicht. Denn sie wurde nur noch von einem hauchdünnen Zwirnsfaden zusammengehalten, es fehlte nicht viel, und sie würde zusammenbrechen." Leseprobe
Adams Tochter Miriam kommt schließlich wieder nach Hause. Was genau der Grund für ihren Atemstillstand war, konnte nicht geklärt werden. Adam weiß, es kann jederzeit wieder passieren und muss mit diesem Wissen leben - ein anderes Leben. Mit "Gezeitenwechsel" ist Sarah Moss wieder ein toller Roman gelungen - eine unbedingte Empfehlung für Leserinnen und Leser mit Kindern.
Gezeitenwechsel
- Seitenzahl:
- 368 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Englischen von Nicole Seifert
- Verlag:
- Mare
- Bestellnummer:
- 978-3-86648-281-4
- Preis:
- 24,00 €
Schlagwörter zu diesem Artikel
Romane
