Putins Aufstieg ist "Spielart des radikalen neuen Nationalismus"

Stand: 01.11.2023 21:00 Uhr

In seinem Sachbuch "Revanche" beschreibt Michael Thumann die Radikalisierung Wladimir Putins und Russlands Absturz in eine totalitäre Diktatur. Das Buch stand auf der Shortlist des NDR Sachbuchpreises.

Michael Thumann: "Revanche - Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat"  (Cover) © C.H. Beck
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von Katja Eßbach

Ende 1999 trifft Michael Thumann Wladimir Putin das erste Mal zu einem Interview. Putin ist da seit ein paar Monaten russischer Ministerpräsident und wird von Thumann als schmalgesichtiger, fast schüchterner Mann beschrieben, der etwas unbeholfen wirkte und ein umständliches Russisch mit vielen bürokratischen Formeln sprach.

Putin habe so getan, als wolle er gute Beziehungen mit dem Westen aufbauen und den Terrorismus bekämpfen. Aber, schreibt Michael Thumann:

Schon damals glaubte ich ihm nicht wirklich. Ich hielt ihn für einen autoritär veranlagten Geheimdienstmann, der seine Amtszeit damit einläutete, Tschetschenien mit einem brutalen Krieg zu überziehen. Was ich trotzdem nie geahnt hätte, dass ich damals den Menschen traf, der gute 20 Jahre später aus seinem Bunker der ganzen Welt mit einer atomaren Katastrophe drohen sollte. Zitat aus "Revanche"

Stationen auf Putins Racheweg zum aktuellen Krieg

Wie es so weit kommen konnte, das beschreibt Michael Thumann in seinem überzeugend argumentierten und brillant geschriebenen Buch. Er zeichnet die Stationen auf dem Weg in den aktuellen Krieg nach.

Dabei leiten Thumanns Analyse drei Grundgedanken: Erstens, so zeigt sich der Autor überzeugt, nimmt Putin Rache. Rache für den Zerfall des Sowjetreiches, den er als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat.

Kremlchef Wladimir Putin während einer Rede im russischen Fernsehen © Kremlin Pool via Zuma Press Wire/dpa Foto: Gavriil Grigorov
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"Es gibt keine verträgliche Dosis von autoritärem Nationalismus"

Zweitens, schreibt Thumann, reagiert Russland nicht auf den Westen, sondern es entwickelt sich aus sich selbst heraus. Und drittens:

Putins Aufstieg ist eine Spielart des radikalen neuen Nationalismus, der in unserer Epoche viele Länder beherrscht. In der Türkei, in Ungarn, in Polen, in Italien und in China dominiert der neue Nationalismus, in Frankreich und Brasilien stellt er die stärkste Oppositionskraft, in den USA war er von 2016 bis 2020 an der Macht und kann 2024 zurückkehren. Putin beweist: Der neue Nationalismus führt zum Krieg, und die staatliche Stabilisierung auf Biegen und Brechen mündet in die Diktatur. Es gibt keine verträgliche Dosis von autoritärem Nationalismus. Zitat aus "Revanche"

Putin, so schreibt Thumann, war allerdings nicht von Anfang an ein Vertreter dieses neuen Nationalismus. So sei er eher ein Gelegenheitsnationalist, der sich dieser Ideologie aus reinem Kalkül bemächtigte.

Nationalist zum Zwecke des Machterhalts

Er sei ein Nationalist zum Zwecke des Machterhalts, was ihn anschlussfähig an Brüder im Geiste wie Erdoğan, Trump oder Orban mache. Der Nationalismus ist für Thumann eine wichtige Station auf dem Weg in den Krieg.

Genau wie die Fehler und Versäumnisse vor allem Deutschlands in der Vergangenheit:

Deutsche Politiker und Wirtschaftslenker ignorierten die inneren Veränderungen Russlands und Metamorphosen Putins an der Macht. Sie übersahen vor allem, dass Putins Russland nicht die siegreiche, saturierte Sowjetunion war, sondern ein zunehmend revanchistischer Staat (...) Die Deutschen meinten Russland am besten zu verstehen, und das war wohl ihr größtes Missverständnis. Zitat aus "Revanche"

Michael Thumann beschreibt auf knapp 300 Seiten Russlands Absturz in eine totalitäre Diktatur. Stationen auf diesem Weg sieht er in der allgegenwärtigen Propaganda, im Missbrauch der russischen Vergangenheit, der Abschottung des Landes und Entfremdung vom Westen.

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Cover: "Alle Zeit" / "Keine falsche Toleranz" / "Revanche" / "Bleibefreiheit" © Ullstein / C.H. Beck / S.Fischer / Europäische Verlagsanstalt

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Wiederbelebung des sowjetischen Systems der Strafverfolgung

Ein weiterer Punkt sei die Wiederbelebung des sowjetischen Systems der Strafverfolgung und der Lager. Vollumfänglich verantwortlich dafür sind seiner Meinung nach Putin und seine Vertrauten. Den russischen Präsidenten charakterisiert der Autor als zutiefst gekränkten Mann, der am Ende seiner Karriere alles aufs Spiel setzt, was er in den 22 Jahren davor erreicht hatte. Thumanns Fazit:

Er wirkte wie ein dem Wahn verfallener Unternehmer, der lange Zeit ein sehr erfolgreiches Geschäftsmodell hatte und am Ende seiner Karriere ins Casino geht, um seine Altersversorgung sowie das Erbe seiner Kinder zu verzocken. Sein Einsatz war die politische, ökonomische und kulturelle Stabilität Russlands, auf die er früher mal so stolz war. Zitat aus "Revanche"

Michael Thumann schreibt leicht verständlich und spannend

Für sein Buch hat Michael Thumann mit Protagonistinnen und Protagonisten der russischen Politik und Gesellschaft gesprochen. Trotz Faktenfülle und Komplexität liest es sich ausgesprochen gut, ist leicht verständlich und sehr spannend.

Mit seiner abschließenden Bezeichnung Putins als - Zitat - blutrünstigster Herrscher Russlands seit Josef Stalin wird Thumann möglicherweise Kritik auf sich ziehen, aber seine Analyse gibt dieses Fazit absolut her.

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"Revanche - Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat

von Michael Thumann
Seitenzahl:
288 Seiten
Genre:
Sachbuch
Verlag:
C. H. Beck Verlag
Veröffentlichungsdatum:
26. Januar 2023
Bestellnummer:
978-3-406-79935-8
Preis:
25 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 26.01.2023 | 11:55 Uhr

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Sachbücher

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