Rainer Moritz im Porträt © picture alliance/dpa | Georg Wendt

Rainer Moritz: "Literatur kann unseren Sinn für Mögliches schärfen"

Stand: 25.05.2022 14:38 Uhr

Was macht die Kraft von Literatur aus? In welchen Lebensbereichen kann sie helfen und wo stößt sie an ihre Grenzen? Ein Gespräch mit Rainer Moritz, der das Buch "Die Überlebensbibliothek" geschrieben hat.

Ein Buch, das "Die Überlebensbibliothek" heißt - das lässt an Kästners "Lyrische Hausapotheke" denken, an Literatur als Heilmittel und Trostspender. "Bücher für alle Lebenslagen" verspricht der Untertitel. Kann Literatur in allen Lebenslagen helfen?

Sie haben vor einigen Jahren ein Buch geschrieben, das "Die Überlebensbibliothek" heißt. Wie können Bücher beim Überleben helfen?

Rainer Moritz: Das ist eine sehr schwierige Frage. Wenn man Heilkraft sagt, dann denkt man ja, dass eine Wunderwaffe kommt, eine Medizin kommt, die uns von allen Übeln befreit. Ich glaube, ganz so einfach ist es mit der Literatur nicht. Wir alle wissen, dass Literatur trösten kann, dass sie auch Glücksversprechen gibt. Manche behaupten ja sogar, lesen mache glücklich. Das würde ich so nicht sagen. Es macht manchmal glücklich, aber nicht immer glücklich. Es gibt auch Bücher, die uns unglücklich machen. Aber natürlich wirkt Literatur auf eine komplizierte Weise auf unser psychisches Leben ein, hilft uns vielleicht auch, in Lebenssituation etwas besser zu verarbeiten. Aber es ist eben nicht ganz so einfach wie mit Sachbüchern. Wenn ich ein Büchlein kaufe – "Wie mache ich eine Pizza?" - und studiere dieses Büchlein, dann habe ich vielleicht nach drei, vier Wochen einen Erfolg, und mir gelingt eine wunderbare Pizza. Wenn ich einen Roman, eine Erzählung, lese, werde ich nicht den gleichen Effekt haben.

Machen wir es mal konkret: Im Untertitel heißt ihr Buch ja "Bücher für alle Lebenslagen". Können Sie mal ein Beispiel nennen?

Moritz: Ja, man könnte beispielsweise, wenn man von Eifersucht geplagt ist - das ist ja etwas, was die Menschen häufig überfällt, auch wenn man sagt, das will ich nicht, so bin ich nicht - dann gibt es in der Weltliteratur sehr, sehr viele Bücher, die auch dann logischerweise von Eifersucht handeln, weil die Liebe natürlich ein Zentralthema ist. Ich empfehle dann immer, die frühen Bände von Marcel Proust zu lesen. Man muss nicht die 4.000 Seiten "Auf Suche nach der verlorenen Zeit" komplett lesen. Aber wenn man liest, wie es Swann ergeht, wie er es mit seiner Odette gemacht hat oder nicht gemacht hat, dann kann man, glaube ich, sehr viel über Eifersucht lernen, weil dieses Buch, dieser Roman so voller Eifersuchtszenen ist, dass man beim Lesen selber vielleicht lernt, einfacher mit seiner eigenen Eifersucht umzugehen. Man will ja nicht so sein wie dieser Romanheld, der sich so furchtbar lächerlich macht in seiner Eifersucht.

Dann relativiert sich ja auch manchmal einiges. Ist es Ihnen tatsächlich so gegangen, dass Sie vielleicht auch mal darauf angesprochen wurden? Lieber Herr Moritz, ich habe ein Problem. Was empfehlen Sie so, Dr. Moritz?

Moritz: Nein, das zum Glück nicht. Das wäre auch vermessen. Darauf würde ich auch, glaube ich, keine Antwort geben. Dieses Buch, das Sie erwähnt haben, "Die Überlebensbibliothek", gibt ja 70 Angebote - manchmal mit ironischem Augenzwinkern. Es gibt beispielsweise das Buch von Karen Duve "Der Regenroman". Ich finde, wenn man einen sehr trockenen Urlaub erlebt, wenn man einen sehr trockenen Safari-Urlaub erlebt, dann ist der Regenroman - ich kenne keinen feuchten Roman in der Literaturgeschichte - wunderbar geeignet, weil man sofort auch ein bisschen Nass ist, wenn man diesen Roman liest. Man kann das also etwas ironisch wenden. Aber gerade bei dem Eifersuchtsdrama kann man auch sagen: Natürlich gibt es Bücher, bei denen ich sagen würde, ja, das hilft, in schwierigen Lebenssituationen zumindest die Augen zu öffnen. Das ist ganz wichtig. Eben kein Heilmittel, keine Remedur, dass man sagt, jetzt lese ich diese dreihundert Seiten Roman, und danach weiß ich genau, wie es geht.

Aber es ist natürlich individuell schon sehr verschieden, was einem in welcher Lebenslage hilft.

Moritz: Das ist ja die große Kraft der Literatur. Wenn man Literaturveranstaltungen macht, wenn man über Bücher spricht, das hält uns ja am Leben, dann wird man sehr schnell merken: Überraschenderweise lesen nicht alle das Buch genauso, wie ich es gelesen habe. Man glaubt ja, das müssten alle so lesen. Aber das ist ja das Wunderbare, auch an Diskussionen über Literatur, dass man verschiedene Einschätzungen geben kann. Das hat natürlich mit der persönlichen Lebenserfahrung zu tun. Wenn ich bestimmte Lebensbereiche nie kennengelernt habe, dann wird mir ein Held, eine Heldin merkwürdig vorkommen, die irgendetwas erlebt, was mir ganz fremd ist. Wenn ich selber Oberstudienrat bin und lese einen Roman über einen Oberstudienrat, werde ich vielleicht sagen: Ja, wunderbar. Genauso geht es mir Tag für Tag. Da hängt die Lebenserfahrung sehr dran. Die bindet sich mit dem Roman in gewisser Weise. Was am Schluss rauskommt, das wird man sehen.

In der jüngeren Vergangenheit haben ja viele Menschen in Krisenzeiten zu Klassikern gegriffen, zum Beispiel zu dem Buch "Paris - Ein Fest fürs Leben" von Hemingway. Nach den Anschlägen in Paris oder jetzt in Pandemie-Zeiten vor allem zu Camus' "Die Pest". Worauf führen Sie ein solches Phänomen zurück, dass sich dann Menschen in Klassiker retten?

Moritz: Also man muss erst mal unterscheiden, warum sie sich in Klassiker retten. Man kann sich in Klassiker retten, um Analogien zu finden. Die Lektüre von Camus' "Die Pest" ist ein wunderbares Beispiel dafür. Die Verkaufszahlen sind in die Höhe geschnellt, weil die Menschen versucht haben, Analogien herzustellen. Hat diese Pandemie etwas Vergleichbares mit dem, was Camus beschrieben hat? Wenn man den Roman von Camus genau liest, wird man sehen, das sind doch sehr unterschiedliche Dinge, die da verhandelt werden. Aber menschliche Reaktionsweisen, Lebensweisen, die kann man, glaube ich, vergleichen. Und deswegen ist das, was Camus in "Die Pest" schildert, in manchem vergleichbar mit Reaktionen von Menschen. Man kann aber auch Klassiker zurate ziehen, um wegzutauchen, um Ruhe zu finden. Ich empfehle immer Adalbert Stifters "Der Nachsommer", ein sehr langweiliger Roman des 19. Jahrhunderts, der aber wunderbar vermittelt, wie man zur Ruhe kommen kann, wie man Beschreibungen genießen kann, wie man eintaucht in eine ganz langsame Welt. Und das ist ja durchaus eine Erfahrung, die wir in diesen Tagen ganz gut gebrauchen können: Langsamkeit.

Apropos diese Tage - diese Zeiten empfinden ja viele Menschen als sehr belastend. Erst Corona, jetzt der schreckliche Krieg in der Ukraine. Gibt es da ein Buch?

Moritz: Man muss, glaube ich, auch sagen, man darf von der Literatur auch nicht zu früh erwarten, dass sie Erfahrungen aufgreift. Wenn sie an den Ersten Weltkrieg denken - die großen Romane in der deutschen Literatur über den Ersten Weltkrieg sind alle erst Ende der 20er-Jahre erschienen, also zehn Jahre danach. "Im Westen nichts Neues" beispielsweise von Remarque. Die Literatur reagiert selten sofort darauf, und wenn sie es tut, sind das nicht die besten Bücher. Zu solch einer Soforthilfe ist die Literatur, glaube ich, nicht geeignet. Aber man kann natürlich immer wieder Bücher zurate ziehen, die Existenzsituationen, Grenzsituationen darstellen. Und dann muss man als Leser, als Leserin einfach den Sprung wagen. Hilft mir das weiter in dieser Situation? Kann ich damit was anfangen oder lege ich das Buch lieber zur Seite?

Noch einmal zu Ihnen persönlich. Welches Buch hat Ihnen mal in einer schwierigen Situation geholfen?

Moritz: Ach, das kann ich so konkret gar nicht sagen. Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Semester in Tübingen. Wenn man Literaturwissenschaft studiert hat, dann war das ja verpönt: Man wollte nicht, durfte nicht Bücher konkret auf das eigene Leben beziehen. Damals lasen wir im ersten Semester "Die Leiden des jungen Werther" von Goethe. Das ist auch nicht so lang. Das haben alle geschafft damals. Und wenn man gleichzeitig unglücklich verliebt war zu diesem Zeitpunkt, ich erinnere mich gut an diese Phase, dann hat man den Werther anders gelesen. Natürlich habe ich den Werther auch anders gelesen. Ich habe ihn persönlich gelesen. Das hat man im Seminar meistens verschwiegen, um keinen plumpen Eindruck zu hinterlassen beim Dozenten. Aber natürlich war das ein Moment, wo ich gesagt habe: So wie es Werther ergeht, so ergeht es mir vielleicht auch. Man darf das, wie gesagt, nicht eins zu eins umsetzen. Aber das war beispielsweise eine Lektüre, wo ich genau angeschlossen habe an meine damalige Situation.

Bei Heilkraft der Literatur kommt mir persönlich natürlich Erich Kästners Lyrische Hausapotheke in den Sinn. Sind Sie da auch mal fündig geworden.

Moritz: Ja, natürlich. Als ich die "Überlebensbibliothek" schrieb, habe ich Kästner in die Hand genommen: Wie hat er es gemacht? Was hat er empfohlen? Wie gesagt, es ist, glaube ich, oft auch so, dass man erwartet, Literatur müsse einem sofort helfen, müsse Happy Ends bieten. Das ist, glaube ich, ganz wichtig. Man kann zur Trivialliteratur greifen, zu Romanen, die es nicht so komplex machen wollen. Das kann für den Moment befriedigen, wenn eine Geschichte gut ausgeht. Wir kennen das ja auch von Fernsehfilmen, von TV-Serien, wo alles auf ein Happy End zusteuert. Das mag momentan Befriedigung schaffen, ich glaube aber, die große Kraft der Literatur ist ihre Kompliziertheit, ihre Komplexität, das heißt, sie bietet keine direkten Lösungen an, sondern versucht, unseren Möglichkeitssinn zu schärfen, also uns die Perspektiven zu öffnen, die wir bisher nicht auf das Leben hatten.

Das Gespräch führte Eva Schramm.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch unterwegs | 26.05.2022 | 14:20 Uhr

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