Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja auf der Leipziger Buchmesse. © picture-alliance / dpa | Thomas Schulze Foto: Thomas Schulze

Proteste in Russland? Ulitzkaja sieht Stimmung der Angst

Stand: 25.02.2022 16:17 Uhr

Die Siegfried-Lenz-Preisträgerin Ljudmila Ulitzkaja lebt in Moskau. Im Gespräch mit dem NDR erzählt sie, warum sie nicht mit einem Krieg gerechnet hat und wieso sie jetzt auf die Straße gehen würde.

Frau Ulitzkaja, wie fühlen Sie sich gerade?

Ljudmila Ulitzkaja: Widerlich. Widerlich. Ich bin in Zeiten des Kriegs geboren und gehöre zu der Generation, die damit gerechnet hat, zu sterben, ohne den Krieg jemals wieder zu erleben. Meine Hoffnungen scheinen sich nicht erfüllt zu haben. Wahrscheinlich wird unser Leben im Krieg enden.

Hätten sie sich dieses gewaltige Ausmaß vorgestellt oder erwartet?

Ulitzkaja: Nein, ich dachte, dass es keinen Krieg geben würde. Ich dachte es sei ein Bedrohungsspiel, ein politisches Spiel, ein Spiel, das Kleinkriminelle auf den Hinterhöfen spielen. Ich ging davon aus, dass die sich doch nicht trauen würden. Aber leider ist etwas geschehen, womit ich niemals gerechnet hätte: Die haben sich doch getraut. Der Krieg hat begonnen. Und wir wissen nicht, ob es ein großer oder ein kleiner Krieg ist, ein langer oder ein kurzer, es ist schwierig, jetzt etwas vorherzusagen.

Was denken Sie darüber?

Ulitzkaja: Darüber denke ich nur eines: Wie schade, dass ich nicht vorher gestorben bin.

Was denken Sie, was ist überhaupt geschehen, dass es soweit gekommen ist?

Ulitzkaja: Wissen Sie, ich verstehe sehr wenig von Politik. Mehr noch, ich mag die Politik überhaupt nicht. Als ein Mensch, der sie nicht versteht und sie nicht verstehen will, habe ich mich immer mit anderen Dingen beschäftigt und habe versucht, mich von der Politik fernzuhalten. Und jetzt habe ich überhaupt keine Erklärungen dafür, was gerade geschieht, außer dass ich sehe, dass es eine absolute Gemeinheit ist.

Was denken Sie, was im modernen Russland passiert ist, dass es soweit kommen konnte?

Ulitzkaja: Ich denke, dass es eine falsche Fragestellung ist. Es wäre richtiger zu sagen, was in Russland nicht geschehen ist. In Russland ist der Aufbau einer Zivilgesellschaft nicht geschehen. Das ist nicht geschehen, weil der Staat dazu da ist, um der Bevölkerung ein normales Leben zu ermöglichen. Das ist eigentlich die Idee des Staates, schon seit Platos Zeiten. Es ist dem Staat nicht gelungen, ein gutes Leben für die Bevölkerung zu gewährleisten. Das ist nicht geschehen. Leider.

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In den deutschen Medien ist momentan die Rede davon, dass Deutschland jahrelang die Augen vor gewissen Tendenzen in Russland verschlossen habe. Davor, welches Ziel Putin eigentlich verfolgt hat. Sind Sie damit einverstanden?

Ulitzkaja: Wissen Sie, ich sage es noch einmal, ich verstehe überhaupt nichts von Politik, ich meide sie mein Leben lang. Ich kann weder die Interessen von Russland noch die Interessen von Deutschland nachvollziehen. Es ist doch klar, dass es für mich ein völlig unzugängliches Fach ist. Ich weiß nur, dass das, was jetzt in der Welt passiert, eine außerordentliche Gefahr für die Menschheit ist. Und Schuld daran ist natürlich die Staatspolitik. Die Staatspolitik Russlands, die Staatspolitik des Westens. Das Resultat, das wir jetzt sehen, dieser ausgebrochene Krieg, das ist in Wirklichkeit die Wechselwirkung von zwei, anscheinend nicht sehr präzisen Politiken.

Wenn Sie durch Moskau spazieren, sich mit anderen Menschen unterhalten, und die Meinung russischer Staatsbürger hören, unterstützen diese den Weg, den der Staat gewählt hat?

Ulitzkaja: Ich unterhalte mich eigentlich mit Menschen aus meinem engen Kreis, mit meinen Gleichgesinnten, darum kann ich nicht für die öffentliche Meinung sprechen. Wenn du fernsiehst oder Radio hörst, bist du eher verwundert. Ich denke nicht, dass unsere Sozialen Netzwerke und Radiosender und das Fernsehen in irgendeinem Maß, wenigstens annähernd, die Einstellungen der Bevölkerung unseres Landes widerspiegeln. Ich denke nicht.

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Denken Sie, es wird Proteste in Russland geben?

Ulitzkaja: Ich denke nicht. Ich denke nicht, weil hier die Stimmung der Bedrücktheit, der Apathie und generell der Angst herrscht. Immerhin war die Geschichte mit Nawalny sehr bezeichnend. Hier haben wir einen Menschen, der aktiv und lebhaft gegen den heutigen Anführer aufgetreten ist und wir sehen, wozu das geführt hat. Das war eine sehr überzeugende Lektion für eine große Anzahl an Menschen. Der Mensch ist biologisch ein Tier. Und die Angst gibt dem einzelnen Organismus die Möglichkeit zu überleben. Die Angst beschützt uns und wir sehen das Resultat.

Würden Sie selbst heute auf die Straße gehen?

Ulitzkaja: Ja!

Warum?

Ulitzkaja: Allein würde ich nicht gehen, aber wenn Sie mitkämen und meine Nachbarn, und meine Freunde, würde ich natürlich gehen. Wer geht denn heute für den Krieg auf die Straße? Wer geht jetzt auf die Straße mit einem Plakat "Ich bin für den Krieg"? "Ich bin für den Frieden", das ist klar. Aber für den Krieg? Solche Menschen kenne ich nicht.

Wie sollte der Westen reagieren?

Ulitzkaja: Ich habe es Ihnen schon gesagt, ich habe kaum etwas mit Politik zu tun, ich weiß nicht, was "Westen" und was "Osten" sein soll. Heute denke ich, dass es sehr veraltete Konzepte sind. Heute agiert die Welt mit irgendwelchen anderen Konzepten. "Ost" und "West" sind heute nicht ausreichend. Das sagt nichts aus.

Das Gespräch führte das ARD-Studio Moskau.

 

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 25.02.2022 | 20:00 Uhr

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