Navid Kermani: "Wir müssen die großartige russische Kultur bewahren"
Der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani ist für einen ökonomisches Boykott und dafür, die handelnden Personen zu sanktionieren - aber nicht die russische Zivilgesellschaft und die Kultur.
Vor genau vier Wochen hat Russland die Ukraine angegriffen. Seither herrscht Krieg in dem Land. Die ukrainische Armee wehrt sich mit allem, was sie hat. Russland hat Tod, Leid, Vertreibung über die Ukraine gebracht und derzeit deutet nichts darauf hin, dass Russlands Präsident Putin diesen Angriffskrieg stoppen wird. Der Schriftsteller und Friedenspreisträger Navid Kermani hat ukrainische Städte, die jetzt bombardiert werden, in seinen Büchern beschrieben. Er hat also eine Verbindung zu dem Land.
Herr Kermani, vier Wochen Krieg. Was macht das mit Ihnen?
Navid Kermani: Im Prinzip das gleiche wie mit allen anderen Menschen. Ich kenne die Städte und viele Menschen in der Ukraine. Das, was mich persönlich in diesen Tagen und beim Einbruch des Krieges beschäftigt, ist, dass, als ich 2016 in der Ukraine war, viele Menschen - Intellektuelle und Schriftsteller - vor diesem Krieg gewarnt haben. Ich habe das auch in meinen Büchern erwähnt und wiedergegeben, aber ich habe es selbst nicht in dem Ausmaß glauben können. Dieses Überraschtsein, das bei mir vielleicht noch ein bisschen stärker ist, weil ich selbst vor Ort war, und wie die Menschen damals schon ihre Ängste geschildert haben, beschämt mich vielleicht umso mehr.
Dieser Angriffskrieg hat in Deutschland dazu geführt, dass bei uns auf Stärke gesetzt wird - nehmen wir die Aufrüstung der Bundeswehr beispielsweise. Hat sich ihr Denken in diese Richtung verändert?
Kermani: Nein, weil ich das Vorgehen Russlands in den letzten Jahren verfolgt und immer wieder beschrieben habe. Das fing schon in Tschetschenien an. Damit ist Putin an die Macht gekommen: Grosny, eine vollkommen zerstörte Stadt, ohne dass wir es wahrgenommen haben; Aleppo, wo es vergleichbare Sanktionen vom Westen überhaupt nicht gab. Insofern haben wir diese Politik schon gesehen.
Auch die Schwäche Europas der letzten Jahren ist etwas, was oft beklagt worden ist. Ich glaube, das ist auch ein Teil des Grundes des Krieges. Denken Sie an den Afghanistanabzug: Das sind jetzt Konsequenzen von dem, wo andere vielleicht meinten, wir sollten uns aus der Welt zurückziehen. Es gibt keinen Rückzug. Wenn wir uns zurückziehen, werden andere aktiv. Ich glaube ohne das Desaster in Afghanistan, das so dramatisch die Schwäche des Westens vorgeführt hat, und ohne die Schwäche Europas in den letzten Jahren - die Uneinigkeit bis in letzte Detail -dann wäre dieser Krieg nicht passiert.
Reicht es aus, wie der Westen jetzt Russland begegnet - mit Sanktionen, mit Waffenlieferungen an die Ukraine?
Kermani: Nein. Ich bin keine Militärstratege, kein Ökonom, aber es ist doch vollkommen plausibel, dass das entscheidende Mittel, um Putin zu schwächen, ein Gas- und Ölboykott wäre. Genau da wehrt sich Deutschland vehement. Wir finanzieren diesen Krieg jeden Tag mit hunderten Millionen Euro. Und da der Ölpreis gestiegen ist, refinanziert sich der Krieg sogar. Das heißt: Die Ausgaben werden zu einem guten Teil durch den höheren Ölpreis gedeckt. Da, wo es uns selbst wehtun könnte, wir Einschränkungen in Kauf nehmen müssten und es unserer Wirtschaft schadet: Da machen wir nicht mit, obwohl wir wissen, dass das das effektivste Mittel wäre, diesen Krieg zu beenden - so sagen es jedenfalls alle Strategen oder alle, die sich besser auskennen als ich. Also: nicht in die Eskalation zu gehen, wie etwa eine Flugabwehrverbotszone, sondern an der Quelle anzusetzen, wo dieser Krieg finanziert wird.
Mit einem öffentlichen Appell haben sich prominente Wissenschaftler und Politiker gegen Aufrüstung ausgesprochen, also gegen dieses geplante 100 Milliarden Euro schwere Sonderprogramm der Bundeswehr. Unterzeichnet haben die Theologin Margot Käßmann etwa, aber auch Schauspielerinnen wie Katja Riemann oder Corinna Harfouch. Halten Sie so ein Signal für richtig?
Kermani: Ich kenne den Aufruf selbst gar nicht. Ich bin jetzt auch zu unsicher. Die Bundeswehr - soweit ich das wahrgenommen habe und aus eigener Beobachtung kenne - ist sehr schlecht ausgerüstet, fast kampfunfähig. Ich glaube, wenn man eine Bundeswehr unterhält, müssen die Soldaten eine halbwegs plausible Ausrüstung haben. Das hat in vielen Teilen gefehlt - aber ob das 100 Milliarden sein müssen und ob nicht andere Ausgaben mindestens genauso wichtig sind? Warum zum Beispiel wird ausgerechnet der Entwicklungsetat massiv zusammengestrichen, obwohl wir alle wissen, dass dieser Krieg massive Auswirkungen auf die Nahrungsmittelindustrie und auf den Hunger in Afrika und in anderen Teilen der Welt hat? Weite Teile Afrikas beziehen ihr Korn aus der Ukraine und aus Russland. Die Dinge, die anderswo passieren, gehen uns hier in Berlin, in Hamburg, in Köln, direkt an. Das ist ein wirklich fatales Signal, ausgerechnet jetzt den Entwicklungsetat zusammenstreichen. Das geht mir wirklich nicht in den Kopf.
Wir erleben gerade, dass viele Brücken nach Russland abgerissen werden. Das betrifft auch die Zivilgesellschaft, auch die Kultur beispielsweise. Halten Sie das für konsequent oder den falschen Weg?
Kermani: Das halte ich für den falschen Weg. Ich habe das öffentlich mehrfach gesagt: Ich bin für einen ökonomisches Boykott und ich bin auch dafür, die handelnden Personen zu sanktionieren - alles, was hilft - aber nicht die russische Zivilgesellschaft, schon gar nicht die russische Kultur. In Berlin wird jetzt etwa, wenn das stimmt, Tschaikowsky abgesetzt. Der ukrainische PEN-Verband hatte zunächst aus vielleicht nachvollziehbaren, unmittelbaren Gefühlen gefordert, keinen Austausch, keinen Kontakt mit russischen Autoren zu haben und nur noch mit Autoren zu verkehren, die politisch auf unserer Seite stehen oder sich distanziert haben.
Ich glaube, es braucht den Austausch - den wissenschaftlichen Austausch und den Austausch der Zivilgesellschaften. Wir müssen weiter die großartige russische Kultur bewahren, pflegen und lieben. Denken Sie an das Dritte Reich. Da wurde im Ausland die deutsche Kultur weitergetragen, gerade auch durch Exilanten. Diesen Austausch müssen wir weiter halten. Wir müssen auch den Kontakt behalten, müssen wissen, was in Russland passiert. Das neue Mediengesetz in Russland, das es sehr schwer macht, aus Russland überhaupt zu berichten, ist fatal. Wir müssen versuchen zu schauen, wie wir dennoch erfahren können, was in Russland passiert.
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