Martin Walser: Leben bedeutet Schreiben

Martin Walser gilt als sensibler Künstler, der sich mit Leidenschaft aufregen kann. In seinem jüngsten Werk "Statt etwas oder Der letzte Rank" führt er nun einen Autor vor, der alle "Fallensteller, Untersteller, Verdächtiger" umarmen will.
Im Gespräch mit NDR Kultur gibt sich Walser selbst versöhnlich: Er erinnert an den Vater, der als Wirt und Vertreter scheiterte, an die Mutter, die den Laden zusammen hielt, erzählt von seinen Anfängen als Radioreporter, der über Flüchtlinge in einem Stuttgarter Bunker berichtete und blickt zurück auf seine ersten Romane.
Herr Walser, je älter man wird, desto näher rückt die Kindheit, heißt es. Sie haben bereits einmal in einem Roman eine Kindheit beschrieben, die in mancher Hinsicht Ihrer sicherlich ähnlich ist, mit der Figur Johann und dem Titel "Ein springender Brunnen". Dennoch die Frage: Welches Bild aus der Kindheit ist bei Ihnen haften geblieben?
Martin Walser: Das ist nicht ein Bild, das ist eine Landschaft, eine Zeit, und das sind natürlich vor allem meine Mutter und mein Vater. Das ist klar, wie bei jedem Menschen hat nichts auf mich einen solchen Eindruck gemacht wie meine Mutter, die unser Geschäft geführt hat, und mein Vater, der ein sehr unglücklicher Geschäftsmann war. Diesen Widerspruch zwischen den beiden, den habe ich als Kind auch erlebt.
Sie haben dann angefangen zu studieren, erst in Regensburg, dann in Tübingen und schon sehr früh angefangen, zu arbeiten, und zwar beim Süddeutschen Rundfunk, weil Sie eben auch Geld verdienen mussten und Angst hatten, Schulden zu machen - oder?
Walser: Als Student in Tübingen hatte ich das Glück, im Jahr 1949 in der Studentenbühne ein Goethe-Kabarett zu machen. Und das hat einer vom Süddeutschen Rundfunk angeschaut. Der ist nachher zu mir gekommen und hat gesagt, ich könne in den Semesterferien auch bei ihnen in Stuttgart im Radio arbeiten. Und weil ich da als Kabarettist aufgetreten bin, hat er gesagt: in der Unterhaltungsabteilung. Also bin ich mit größter Freude in den Ferien zusammen mit einem anderen Kommilitonen, bei dem ich dort gewohnt habe, nach Stuttgart. In der Unterhaltungsabteilung und wurde ich für eine Sendung zuständig gemacht, die hieß "Klingende Wochenpost". Da gab es eine Melodie, auf die man Sechszeiler drauf texten musste. Pro Strophe, also sechs Zeilen, bekam man 20 Mark. Das war märchenhaft. Gleichzeitig wurde mir innerhalb der Sendung die "Nörgelecke der Hausfrau" übertragen. Zwei schwäbische Hausfrauen nörgeln über alles Mögliche. Da war das Neue für mich, dass ich im schwäbischen Dialekt schreiben musste. Den hatte ich mir sehr schnell angewöhnt. Der ist ja nicht ganz verschieden vom alemannischen. Also hatte ich zwei Sachen zu tun: die Couplets und die Nörgelecke der Hausfrau. Und damit war ich wohlgestellt.
Sie sind aber auch als Reporter unterwegs gewesen. Was ist Ihnen geblieben von dieser Zeit als Reporter, was haben Sie mitgenommen für Ihre Art und Weise des Schreibens?
Walser: Die Reportertätigkeit hat auf mein Schreiben nicht gewirkt. Das musste ich machen, weil ich Geld verdienen musste. Und das habe ich gerne gemacht. Politiker zu interviewen, Karajan, Fritz Kortner interviewen zu dürfen, das war alles sehr interessant. Aber ich wusste schon in der Zeit, dass ich schreiben will. Von da an musste ich auf die Bahn des freien Schriftstellers. Im selben Jahr, 1957, erschien dann mein erster Roman "Ehen in Philippsburg". Und zum großen Glück kriegte ich in diesem Jahr dann den Hermann-Hesse-Preis. Das waren 10.000 Mark. Die hätte ich natürlich gut brauchen können. Noch wichtiger aber war, meiner Mutter zu beweisen, dass man durch Schreiben auch etwas verdienen kann. Ich habe ihr den Scheck, die 10.000 Mark, gegeben und ich bin sicher, das hat sie endgültig davon überzeugt, dass man auch schreibend durch die Welt kommen kann.
Was Sie als Schriftsteller von Anfang an auszeichnet, und vielleicht ist das ja auch ein Mitprodukt dieser Radiotätigkeit, ist, dass Sie sich um Schicksale einfacher Menschen kümmern. Sie sind 1955 angetreten, als Thomas Mann, der Repräsentant des Großbürgertums, abgetreten ist. Und Sie haben mit "Ehen in Philippsburg" und dann vor allem mit der Anselm-Kristlein-Trilogie Menschen geschildert, die eher aus dem Kleinbürgertum kommen.
Walser: Ja, aber ich habe auch, als ich Reporter war, dem Abteilungsleiter eine Sendereihe vorgeschlagen - die nannte ich "Schicksale in dieser Zeit", denn damals waren sehr viele Menschen noch nicht dort angekommen, wo sie hin wollten. Da gab es auch Flüchtlinge, aus dem ehemaligen Sudetenland etwa, da hatte ich genug zu tun. Ich war zum Beispiel einmal mit dem Mikrophon dabei, als ein Bunker geräumt werden sollte - in Bunkern haben Leute damals Wohnzuflucht gesucht. Die Polizei in Stuttgart wollte so einen Bunker räumen und die Leute wussten nicht wohin. Und dann war ich natürlich dabei mit dem Mikrophon und habe den Leuten Gelegenheit gegeben, ihren Standpunkt zu vertreten. All solche Sachen habe ich natürlich auch nebenher gemacht.
Kommen wir zurück zu Anselm-Kristlein-Trilogie. Die Figur Anselm Kristlein ist ja die eines Vertreters, der dann auch in der Werbung arbeitet und später Autor wird. Sie haben hier Berufe ausgewählt, die damals in den 50er-, 60er-Jahren durchaus neue Berufe waren. Dadurch haben Sie ein ganz neues Publikum gefunden, aber auch neue Charaktere erschaffen müssen.

Walser: Der Vertreter, der Reisende, der Handlungsreisende - das war sozusagen die Urgestalt des Kapitalismus, des Verkaufs. Das war kein besonders origineller Einfall. Für mich war es ganz selbstverständlich, dass ich jemanden haben will, der in diesem Wirtschaftswunder-Kampf versucht, sich durchzusetzen. Das hatte ich sozusagen ein bisschen geerbt: Mein Vater, der eben ein sehr unglücklicher Geschäftsmann war, hat geglaubt, auch noch mit Vertretungen die Familie ein bisschen ernähren zu können. Das ist ihm nicht gelungen und meine Mutter hat es dann ohne ihn gerettet. Aber das ganze Schicksal, etwas verkaufen zu müssen, etwas verdienen zu müssen, das war natürlich so dringend nah, dass es kein Wunder ist, dass ich darüber in einem langen Roman erzählt habe.
Ihre Figur Anselm wird dann aber auch Werbefachmann. Das ist ja dann doch ein neuer Beruf, den es so vorher nicht gegeben hat und der auch typisch ist für die Fähigkeit, zu schreiben, zu kommunizieren.
Walser: Inzwischen war ich auf Einladung in Amerika. Henry Kissinger war damals noch Professor in Harvard und er hatte ein "International Seminar". Und da wurden in jedem Sommer sozusagen aus 43 Nationen eine Person aus der Wirtschaft, eine aus der Parteienlandschaft und eine aus der Kultur eingeladen und mit einem hervorragenden Vorlesungsprogramm bedient. Der Kissinger hat uns die Besten, die Intelligentesten Amerikas vorgeführt. Da habe ich auch gelernt, was die Werbung bedeutet. Das war damals in Amerika schon viel weiter als bei uns. Das hat mich sehr beeindruckt und da wusste ich, da will ich meine Figur auch hinbringen.
Am Ende wird aber dann Anselm Kristlein Autor. Es ist also auch ein bisschen Ihr eigener Weg vom Reporter zum Autor oder vom Radiomann zum selbstständigen Autor. Das ist aber nicht unbedingt in der Art des Bildungsromans des 19. Jahrhunderts geschrieben, sondern fast umgekehrt. Der Weg geht bergab, "Der Sturz" heißt ja auch der letzte Band dieser Kristlein-Trilogie.
Walser: Ja gut, das hat sich halt in meinem Bewusstsein so abgespielt, dass das nur als Sturz erzählbar war. Ich konnte nicht als dritten Kristlein-Roman, den konnte ich nicht "Aufstieg" nennen, sondern ich musste ihn "Sturz" nennen.
Das Gespräch führte Ruthard Stäblein.
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