Bernardine Evaristo: "Feminismus ist nicht nur ein Wort"
2019, mit 60 Jahren, bekam Bernardine Evaristo für den Roman "Mädchen, Frau etc." den renommierten Booker Prize - als erste schwarze Frau. Nun erscheint ihre Autobiografie.
Bernardine Evaristo ist eine wichtige Stimme in den Debatten um Rassismus und Klassismus, Queer- und Frauenfeindlichkeit. NDR Kultur hat die britische Autorin zu ihrer Autobiografie befragt.
Es muss interessant sein, sein eigenes Leben in ein Buch zu packen. Inwieweit hat das Ihren Blick auf Ihr eigenes Leben geformt, verändert?
Bernardine Evaristo: Der Prozess des Schreibens zwang mich, mich zu fragen, wer ich war und wie ich die Person wurde, die ich heute bin. Offensichtlich kenne ich mein Leben. Ich weiß, wo ich geboren wurde, kenne meine Geschichte. Das brachte mich dazu, mein Leben zu überdenken und auf Dinge in einer etwas anderen Art zu schauen. Es war eine Art Entdeckungsreise, was wirklich interessant ist.
Gab es Überraschungsmomente?
Evaristo: Eine Sache, die ich beim Schreiben meiner Bücher, aber auch in Beziehungen, die ich hatte, erkannt habe: Ich schaue auf einige Beziehungen, die ich Laufe meines Lebens hatte und wie sie meine Kreativität geformt haben. Ich erkenne, dass ich mit Dingen weitermache, auch wenn mir alles sagt, dass ich damit aufhören muss. Wie die Beziehung, die nicht läuft, aber ich halte daran fest. Oder das Buch, das nicht funktioniert, aber ich schreibe drei Jahre lang weiter, bis ich es wortwörtlich wegwerfe. Das ist mit der Originalversion von "Lara" (Versroman von Evaristo aus dem Jahr 1997, Anm. d. Red.) passiert. Ich habe das erste Manuskript tatsächlich weggeworfen. Ich habe drei Jahre damit verbracht. Ich habe nie richtig verstanden, wie verbissen und stur ich war, wenn ich Dinge weiter verfolgte und es vielleicht besser nicht getan hätte.
Sie sagen, Sie haben noch nie eine Therapie gemacht, weil Sie gern mit Ihren Dämonen leben, aber das Schreiben sei eine Art Katharsis. Inwiefern?
Evaristo: Wenn Du Deine Memoiren schreibst, ist das beinahe, als würdest Du Dich selbst therapieren. Weil Du daran arbeitest, was Dich bewegt. Und deshalb dachte ich: Ja, ich tat dies und jenes, das war mein Leben und das waren die Menschen, von denen ich abstamme, meine Familie usw. und das ist mein Aktivismus. Es war in der Tat ein Trip und beinahe ein therapeutischer. Weil ich am Ende das Gefühl hatte, mich selbst auf eine andere Art und Weise als vor dem Buch zu verstehen.
Sie sind in London als ein mittleres Kind von insgesamt acht Geschwistern aufgewachsen. Was haben Sie in dieser "Familien-Schule" gelernt?
Evaristo: Wenn Du ein mittleres Kind bist, sind die älteren Kinder schon weiter in ihrer Persönlichkeitsentwicklung, außerdem sind die Erstgeborenen oft die Lieblinge. Und die Jüngsten sind oft die Lieblinge, weil sie so klein und süß sind. Du bist in der Mitte. Du bist in dieser Familienzusammensetzung nicht mehr klein und süß.
Es war also interessant, mit so vielen Geschwistern aufzuwachsen: immer Leute um Dich herum zu haben, niemals Zeit für Dich selbst zu haben - außer beim Lesen, das war meine Flucht. Und dann in der Zeit aufzuwachsen, in der ich groß wurde: in einer sehr rassistischen Zeit der britischen Geschichte vor langer Zeit und die Feindschaft meiner Gemeinde zu fühlen und wirklich zum Außenseiter gemacht zu werden. Und dann die Familiendynamik, ich hatte zudem einen sehr dominanten Vater. Ja, es war kompliziert.
Aus heutiger Sicht: Inwieweit haben Sie festgestellt, dass es gut war, ein mittleres Kind zu sein und nicht immer im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen?
Evaristo: Beim Schreiben von "Manifesto" wollte ich alles aus einem positiven Blickwinkel betrachten. Ich wollte sehen, wie ich das Beste rausziehen kann aus meinem Leben - egal, ob es schwierige Dinge waren, die ich durchlebte oder nicht und welche Lektionen ich dadurch lernte. Und tatsächlich würde ich nichts an meiner Vergangenheit ändern. Ich wäre nicht gern das älteste Kind, weil das mehr Verantwortung tragen muss. Und ich wäre auch nicht gern das jüngste Kind - dann hast Du all diese älteren Geschwister, die ihr eigenes Leben führen, lange bevor Du es kannst.
Als mittleres Kind habe ich gelernt, unabhängig zu sein und das ist etwas, das ich unglaublich wertschätze. Und ich bin unglaublich unabhängig. Ich habe gelernt, für mich selbst zu denken, selbstständig zu sein und irgendwann fand ich den Weg zum Jugendtheater und da lernte ich, mich selbst auszudrücken. Vielleicht hätte ich das Jugendtheater nicht gebraucht, wenn ich nicht in diesem Mittleres-Kind-Syndrom gefangen gewesen wäre. Und das Jugendtheater war meine Geburt, das war der Beginn meines Lebens, meines kreativen Lebens.
Sie schreiben in "Manifesto" über das Phänomen des internalisierten Rassismus, dass Sie Teile Ihres Körpers abgelehnt haben. Es ist sicher schwierig, dieses Phänomen zu identifizieren. Wann waren Sie so weit?
Evaristo: Das Konzept des internalisierten Rassismus habe ich vermutlich in meinen frühen Zwanzigern kennengelernt: Wenn Du eine Person of Color bist, vor allem wenn Du in einer weißen Mehrheitsgesellschaft aufwächst oder sogar einer kolonisierten Gesellschaft. Wenn Du zum Beispiel in Indien groß wirst, kolonisiert von den Briten, wo der Wert des Weißseins, in Hautfarbe, Kultur usw. in der Hierarchie ganz oben angesiedelt ist und wo Deine braune Haut als unterste Stufe der Leiter betrachtet wird, dann ist es wirklich schwer, ein Identitätsgefühl zu entwickeln.
Und was Du dann tust: Du nimmst diesen Rassismus in Dir selbst auf und so wird die schwarzenfeindlich Gesellschaft Teil von Dir. So wirst du auf eine Art schwarzenfeindlich und das ist unglaublich selbstzerstörerisch. Mein Vater war ein nigerianischer Mann mit sehr dunkler Haut und ich wollte nicht auf der Straße mit ihm gesehen werden, weil es eine weiße Kultur, eine weiße Gesellschaft war. Und da war dieser schwarze Mann. Ich ging einigermaßen durch, er aber definitiv nicht. Und es war sehr interessant zu lernen, dass das internalisierter Rassismus ist.
Wir lesen in "Manifesto" von Ihrer Mutter, Ihren Tanten, Ihrer Großmutter - sehr starke Frauen, die sich nicht als feministisch bezeichnet hätte, dieses Wort nicht mal kannten. Heute ist es ja sehr in Mode zu sagen: Ich bin feministisch. Wie finden Sie das?
Evaristo: Ja, das ist wundervoll, nicht wahr? Okay, es ist ein bisschen problematisch. Feminismus kam in Mode vor ein paar Jahren. Die Modewelt hat auf einmal diese 700 Pfund-T-Shirts produziert, auf denen steht: Ich bin Feministin. Und man dachte: Oh nein, Feminismus ist zur Ware geworden. Es ist ein Trend und wir wissen, was mit Trends passiert: Sie kommen und sie gehen. Also das war eine Sorge. Aber es war trotzdem ein Weckruf.
Die #metoo-Bewegung hat diese vierte Welle des Feminismus erzeugt. Auf einmal haben junge Frauen ihren Feminismus verkündet und Interesse daran gezeigt. Und ehrlich gesagt, war der Feminismus ziemlich am Boden für einige Zeit. Nicht, dass es keine Feministinnen gab, aber es wurde nicht so viel darüber gesprochen, wie es nötig gewesen wäre. Junge Frauen sind nicht nach draußen gegangen und haben sich dazu bekannt, Feministinnen zu sein vor fünf oder sechs Jahren. Als ich angefangen habe, an der Universität zu lehren, hätten die Studentinnen mich entsetzt angeschaut, wenn ich sie als Feministinnen angesprochen hätte. Als ob sie sagen wollten: Oh nein, bezichtige mich nicht, Feministin zu sein! Wohingegen heute die Idee des Feminismus viel mehr in unserer Gesellschaft integriert und akzeptiert ist. Und wir entwickeln uns hoffentlich hin zu einer immer gleichberechtigteren Gesellschaft.
Wäre es in der Debatte hilfreich, nicht so oft den Begriff zu nutzen und stattdessen so zu handeln, wie es Ihre Vorfahren getan haben?
Evaristo: Ja auf jeden Fall. Feminismus ist nicht nur ein Wort. Meine Großmutter wurde in eine Arbeiterfamilie geboren, um die Jahrhundertwende des 20. Jahrhunderts. Sie verlor ihre Eltern mit elf Jahren und sie machte das Beste aus ihrem Leben. Sie hatte ihr eigenes Haus, sie war Schneiderin, sie hatte Macht im Bereich ihres Haushalts und sie glaubte an die Bildung von Frauen. Deshalb hatte meine Mutter eine gute Bildung. Aber sie beanspruchte nicht den Begriff Feminismus.
Wenn die Idee des Feminismus meine Großmutter zum Beginn des 20. Jahrhunderts erreicht hätte, dann wäre ihr Feminismus über das eigene Zuhause hinausgegangen. Sie hätte zum Beispiel mehr aus ihrer Karriere gemacht. Aber dieses Konzepte begegnete ihrer Generation nicht zu dieser Zeit. Aber ja: Feminismus muss gelebt werden und er muss Teil werden - unserer Psyche und Psychologie, unserer Handlungen, Strategien, Politik und jedes Aspekts unserer Welt, um wirklich die Bedeutung zu haben, die er haben sollte.
Sie sind eine wichtige Stimme in dieser Debatte. Für Ihr letztes Buch "Mädchen, Frau, etc." haben Sie den Booker Prize gewonnen. Wenn wir das Ihrem zehn Jahre alten Ich erzählen würden, was würde es entgegnen?
Evaristo: Ich würde fragen: 'Was ist der Booker Prize?' Ich würde rufen: 'Oh, man gewinnt Preise fürs Bücher schreiben!' Es wäre total außerhalb des Vorstellbaren - nicht nur für mein zehnjähriges Selbst, sondern auch für die Gesellschaft. Ich war die erste schwarze Frau, die den Booker Preis gewonnen hat. Also es war nicht möglich, bis ich es machte, weil es keine vorher gewonnen hat.
Deshalb sind das immer Mahnungen, wie viel wir noch schaffen müssen in unserer Welt. Ich habe 50 Jahre gebraucht, um den Booker Preis zu gewinnen. Oder auch die Präsidentin der World Society of Literature, die in 1820 gegründet wurde: Ich bin die erste Person of Colour und die zweite Frau, die diese Rolle einnimmt. Also es brauchte 200 Jahre, bis eine Person of Colour Präsident der World Society of Literature wurde. Und es ist eine große Ehre, diese Rolle zu haben für vier Jahre. Also wir haben noch einen weiten Weg vor uns.
Das Gespräch führte Mischa Kreiskott.
