Ute Frevert: Putin setzt auf das Gefühl der Angst
Die Historikerin Ute Frevert spricht über die kalkulierten Absichten Wladimir Putins und die mächtigen Gefühle, die Gesellschaften bewegen.
Ein weiterer Tag im Krieg Russlands gegen die Ukraine - die Gefechte werden heftiger. Putin hat die Abschreckungskräfte des Landes in Alarmbereitschaft versetzt. Die Welt ist in großer Unruhe. Sondersitzungen werden in Brüssel, in Washington, in Berlin einberufen, um eines zu verhindern: eine weitere, noch viel weitreichendere Eskalation des Krieges. Das starke Gefühl der Angst ist fast überall spürbar. Mächtige Gefühle: Was haben Sie in der Vergangenheit ausgerichtet? Wozu sind Gefühle fähig? Die Historikerin Ute Frevert ist Direktorin des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Dort leitet sie den Forschungsbereich "Geschichte der Gefühle". Geschrieben hat sie darüber auch das Buch "Mächtige Gefühle von A wie Angst bis Z wie Zuneigung. Deutsche Geschichte seit 1900".
Putin ist entschlossener als wir uns das wohl alle vorgestellt hätten. Welches Gefühl treibt ihn an? Von welchem Gefühl wird er bestimmt?
Ute Frevert: Man spricht ja schon seit geraumer Zeit von einem sogenannten Demütigung-Syndrom, das Russland - sprich seinen Alleinherrscher Putin - heimgesucht habe. Das geht einher mit einer tiefen Kränkung - einer Kränkung darüber, dass der Verlust des Imperiums, der Verlust der territorialen Macht, die Russland, die Sowjetunion, bis 1991 besessen hatte, nun unwiederbringlich dahin ist, dass dafür keine Kompensation erreicht worden ist. Von wem denn auch? Und dass sich sogar die Länder, mit denen sich Russland sozusagen historisch am meisten verwachsen fühlt - wie jetzt in diesem Fall die Ukraine - von Russland abwenden und ihr eigenes Ding machen wollen. Diese Kränkung vermag er nicht zu überwinden. Das ist nicht individualpsychologisch, sondern das ist natürlich auch eine politische Strategie. Und er schiebt es auf die Nato, dass sie Russland in seiner Sicherheit bedrohe. Aber eigentlich steckt dahinter dieses Nicht-abrechnen-können mit der eigenen Vergangenheit.
Am 24. Februar hielt Putin seine Rede zum Krieg, in der er vor jeder Einmischung warnte - ein klares Signal an den Westen, an die Nato, das Ängste schürt. Setzt er diese Gefühlsklaviatur bewusst ein?
Frevert: Sicherlich ist die Drohung kaum verklausuliert. Der Einsatz von Atomwaffen ist das schlimmste Argument oder das stärkste Argument, was er benutzen kann, und bei allen vernünftig und nachhaltig und zukunftsorientierten Menschen ist natürlich eine solche Drohung mit unglaublichen Gefühlen der Unsicherheit und der Angst verbunden. Und genau darauf setzt er nämlich, dass dieses Gefühl von Angst, was er ganz bewusst hervorruft, eben auch zu einer Lähmung führt und sie nicht mehr handlungsfähig sind.
Sie haben sich mit der Geschichte seit 1900 beschäftigt. Ich möchte gar keine Vergleiche anstellen, aber trotzdem frage ich Sie: Gibt es historische Vorbilder für dieses Vorgehen, für Putins Vorgehen? Was kommt Ihnen da in den Sinn?
Frevert: Mir kommt natürlich ganz schnell diese 1968er-Situation in der Tschechoslowakei, damals hieß sie noch so, in den Sinn. Da gab es Anfragen an die sowjetische Armee, zu intervenieren und das Land zu retten. Und dann hatten wir den Einmarsch der Truppen im August 1968. Das ist sozusagen die gleiche Blaupause. Da gibt es immer irgendwen, der bittet. Man macht das ja nicht aus eigener Chuzpe und Übermut, sondern man kommt jemandem zu Hilfe. Und genau das war auch diesmal die Argumentation. Das andere ist die Erinnerung an 1938, als Deutschland damals unter nationalsozialistischer Herrschaft zunächst nach Österreich gegangen ist, auch mit einem historischen Argument: "Wir gehören ja zusammen und die wollten ja schon einmal 1919 zu Deutschland gehören. Das machen wir jetzt also. Wir sind sozusagen die Exekutoren der Geschichte und haben dadurch eine unglaubliche Legitimation." Das erinnert mich daran, wie Putin jetzt argumentiert.
Das hat sich dann fortgesetzt in der deutschen Politik gegenüber der Tschechoslowakei, auch da erstmal die Region zu nehmen, die angeblich vor allem von Deutschen besiedelt waren, und sie heim ins Reich zu führen. Und dann die Reaktion der Westmächte, die gesagt haben: "Na ja gut, das können wir ja alles noch verstehen. Wenn du dann dabei stehenbleibst, dann sei es dir gegönnt". Aber nein, dann kam eben die Unterjochung der gesamten Tschechoslowakei als nächster Schritt. Genau deshalb, denke ich, kann man auch aus dieser Erfahrung von 1938 und der Appeasement-Politik damals die Lehre ziehen, die, glaube ich, jetzt auch der Rest der Welt - abzüglich Chinas vielleicht - gezogen hat. Wehret den Anfängen und kein Appeasement, sondern eine ganz klare Haltung gegen diese dreiste, historisch sozusagen camouflierte Expansionspolitik Russland.
Nun betreibt Putin in seinem Land ja eine gezielte Informationspolitik - gerichtet gegen die Ukraine, gegen den Westen. Das sind die Informationen, die im Moment von den russischen Medien in Russland transportiert werden. Vermutlich ist das eine Frage der Zeit, bis sich die russische Bevölkerung ein davon auch losgelöstes, eigenes Bild machen wird. Was passiert dann mit diesen mächtigen Gefühlen, die sich womöglich gegen Putin richten werden?
Frevert: Sie werden sich nur dann gegen Putin richten können, wenn das nicht nur Einzelreaktion sind, die für sich sagen: "Ich weiß überhaupt nicht mehr, wem ich nun noch glauben soll". Man muss ja auch sagen, dass die jeweiligen Argumentationen in sich ziemlich geschlossen sind. Das zu durchschlagen und mit dieser Unsicherheit, mit der Verunsicherung umzugehen, ist nur dann möglich, wenn Menschen in Gruppen handeln können. Das kann niemand einzeln machen. Dafür braucht es Organisationskerne. Ob es die in Russland gibt, kann ich selber nicht beurteilen. Ich kann nur sagen, dass ich den Mut derjenigen, die protestieren, unglaublich bewundere.
Die Menschen in der Ukraine sind in größter Gefahr, bangen um ihr Leben. Die Weltgemeinschaft hat sich zusammengeschlossen. Das ist ja auch ein Gefühl - ein ganz großes Gefühl der Solidarität.
Frevert: Solidarität ist ein Gefühl, das darauf beruht, dass man nicht nur mitfühlt mit dem anderen, sondern dass man sich potenziell in einem ähnlichen Bedrohungsszenario wiederfindet. Ich glaube, das ist das, was auch erklärt, dass gerade in den Anrainerstaaten der Ukraine, die sich ansonsten von solidarischen Aktionen in Richtung Migration, Geflüchteten in den letzten Jahren ja sehr zurückgehalten haben - ich rede vor allem über Polen und über Ungarn - dass gerade in diesen Regionen ein starkes Bewusstsein dafür entsteht, dass sie möglicherweise auch die Nächsten sein könnten, die dann von einer solchen Ausdehnungsenergie Putins möglicherweise in Mitleidenschaft gezogen werden. Dieses gemeinsame Bedrohungsgefühl trägt sicherlich dazu bei, dass man jetzt auch ganz offen diese Solidarität zeigt.
Das Interview führte Claudia Christophersen.
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