Jürgen Becker: Gesammelte Gedichte zum 90. Geburtstag
Am 10. Juli vollendete der Schriftsteller und Georg-Büchner-Preisträger Jürgen Becker sein 90. Lebensjahr. Der Suhrkamp-Verlag hat aus diesem Anlass ein 1.000-seitiges Buch mit Beckers gesammelten Gedichten veröffentlicht.
"Ich bin sicher nicht der reine Frohsinns-Rheinländer und auch nicht der reine Melancholiker. Es ist eine Mischung. Es hängt vom Wetter ab" - bei Jürgen Becker immer. Weil das Wetter dasteht als Metapher für das Leben: abwechslungsreich und unberechenbar, voller Überraschungen. Wie das Werk Jürgen Beckers. Ob er über Landschaften und Orte schreibt, über die Jahrzehnte, aus denen sich sein Leben zusammensetzt, über die Kindheit und die prägenden Kriegsjahre.
"Diese ganzen Jahre, die sind ganz fest im Kopf drin", sagt Becker. "Es gibt keine Zeit, die sich so fest eingeprägt hat. Das geht bis in die ersten Nachkriegsjahre hinein. Nicht so, dass ich ungeheuer leiden würde. Es ist eine bestimmte Phase des Lebens gewesen, nicht nur für mich, sondern auch für viele andere Menschen meiner Generation genauso, weshalb dieses historische Ereignis, von dem ich weiß, dass es sehr mein Leben, meine Biografie geprägt hat, selbstverständlich ein Material geblieben ist fürs Schreiben."
Ein Ineinandergreifen verschiedener Zeit- und Ortsebenen
In seinen jüngsten, soeben erst veröffentlichten Journalgedichten mit dem Titel "Rückkehr der Gewohnheiten" stehen Erinnerungen an das "Schweigen der Spätheimkehrer" und an den "Angriffscode Montgomerys zur Überquerung des Rheins" neben Betrachtungen einer "Mappe mit Zeichnungen aus der Ukraine". Und immer wieder die Frage: "Wie kommt es, daß vergessene Erfahrungen, ohne daß es dafür einen Anlaß gibt, wieder gegenwärtig sind?"
Dieses Ineinandergreifen der verschiedenen Zeit- und Ortsebenen prägen den lyrischen Kosmos Jürgen Beckers. Seine Texte nennt er gern Journal: Journalgedichte, Journal der Augenblicke und Erinnerungen oder Journalroman. "Entweder man schafft es, das, was man sagen will, auf einer Seite unterzubringen. Oder der eine Satz, den man im Kopf hat, für den ist die Seite viel zu groß. Dieses Spiel zwischen einem äußeren Format und dem Schreiben, dem Text, das ist so mit ein Movens in diesem Buch", erzählt Becker.
Der Klang der Sprache
Als Jürgen Becker 2014 den Georg-Büchner-Preis bekam, war seine erste Reaktion eher verhalten: "Ich habe auf den Preis nicht gewartet, insofern kam der Preis auch völlig unerwartet. Ich war überrascht und ein bisschen sprachlos. Und eigentlich bin ich doch schon zu alt dafür. Da ging Verschiedenes durch den Kopf. Am Ende habe ich gesagt: Ach, du kannst dich ruhig freuen."
Der Klang der Sprache spielt bei Becker immer eine herausragende Rolle. Mehr als 20 Jahre hat er auch als Hörspieldramaturg und -autor gearbeitet. "Ich schreibe einerseits sehr optisch mit den Augen. Und zugleich höre ich. Ich höre meine Texte", erklärt der Schriftsteller. "Nicht dass ich sie mir laut vorlesen würde. Nein, ich höre die Stimme dessen, der da schreibt. Und zugleich höre ich, was in mir an Stimmen so redet. Was Zitate sind, was ich einfach aufgeschnappt habe, was ich im Supermarkt an der Kasse gehört habe oder was mir eine Nachrichtenstimme im Fernsehen noch hinterlassen hat an Erinnerungen. Stimmen sind im Kopf."
Jürgen Becker: Inspiration in den Werken seiner Frau
Oft entstehen Beckers Gedichte auch aus Bildbetrachtungen. Die Bilder seiner Frau, der Künstlerin Rango Bohne, mit der er seit 1965 bis zu ihrem Tod im vergangenen Jahr verheiratet war, haben ihn immer wieder inspiriert. Etwa bei dem Gedicht "Gleich welche Jahreszeit": "Vielleicht, dass die Hoffnung sich einmischt wie früher in einer Gegend, wo man nicht weggehen, nicht hineingehen konnte, gleich welche Jahreszeit war. Der Zaunrest, der älteste Zeuge, kann nichts mehr verhindern."
Ein schönes Geburtstagsgeschenk hat Jürgen Becker seiner Leserschaft mit dem Buch "Gesammelte Gedichte" gemacht: 1000 Seiten voller Muße. Darin auch einige Juli-Gedichte. Eines von ihnen ist dem zehnten Juli, seinem Geburtstag, gewidmet. Von Ginster ist darin die Rede und davon, dass auch Marcel Proust an einem 10. Juli geboren worden ist. Ganz ohne Hybris. Ein anderes heißt "Großer Juli" und die erste Strophe klingt so: "Wildnis vor den Fenstern. In der folgenden Nacht breiten sich aus die Flächen des Lichts. Endlich im Wind wachsen Schatten heran. Kann ich jetzt gehn? Auf den Straßen geschieht nichts."
