Stand: 15.03.2019 17:22 Uhr

Bildband und Gedichtsammlung zugleich

von Guido Pauling

Man liest es in allen Literaturmagazinen, die deutschsprachige Lyrik boomt. So viele junge Autorinnen und Autoren wie selten zuvor schreiben Gedichte - und bleiben dabei doch unbekannt. Denn der Buchmarkt giert vor allem nach Promis und feiert, diskutiert, beachtet fast nur Romane. So gleicht der seit zwei Jahrzehnten andauernde Lyrik-Boom ein wenig einer Blütenpracht im Schatten.

Die zeitgenössische Lyrikszene im Porträt

Ein bemerkenswerter Bildband wirft etwas Licht auf die Szene, indem er Fotografie und Lyrik kombiniert: "Das Gedicht und sein Double" heißt das Buch; eine Gedicht-Anthologie und ein Fotokunstbuch mit Porträts der Menschen, die Gedichte schreiben.

Schwarz-weiß, was sonst. Erste Wahl für Porträts. Die zeigen: klare Konturen. Amüsierte Grübchen, wehende Strähnen, kantiges Stoppelkinn. Ab und an: tiefe Falten, Lebenszeichnungen. Dann wieder: Alabasterwangen, jugendlich, weich.

Was auffällt: Deutschsprachige Lyrik ist jung. Unter 50 die meisten, mehr als ein Drittel der Porträtierten jünger als 40.

100 sehenswerte Köpfe

Fotograf Dirk Skiba versammelt sehenswerte Köpfe: von freundlich-zugewandt bis skeptisch-distanziert. Schauend, beobachtend, sehr oft nachdenklich.

Lyriker suchen selten den großen Auftritt. Mehrdeutig, vielschichtig sind ihre Verse und Blicke. Jedes Bild dieses Bandes hat etwas Intimes; man fühlt sich den Personen nah, die sich zeigen und zugleich verstecken in ihrem niedergeschriebenen Selbstporträt.

"ich bin ein unkonzentriertes undiszipliniertes flatterhirn"
schreibt Michelle Steinbeck - und porträtiert sich in nur drei Zeilen. Sehr konzentriert und diszipliniert.
"und ein zwinglianisches arbeitssüchtiges moraläfflein."
Klingt schon strenger. Und wird sogleich wieder umgestülpt.
"und ein zufriedenes gefrässiges faultier."

Dazu sieht eine junge Frau mit Schalk im Blick die Betrachter direkt an. Hochgeschlossen die Rüschenbluse, hinterm Kopf die Finger im dunklen Haar, herausfordernd, amüsiert und jederzeit bereit sich zu entziehen.

Ein Leben in wenigen Zeilen

Kito Lorenc: gerunzelte Stirn, schmerzlicher Blick durch rechteckige Brillengläser, der Mund ein Strich im weiß-grauen Bart. Polohemd und Strickjacke über dem massigen Körper; im Hintergrund ein alter, gebeugter Baum.

         Tage und Jahre gehen
         Und ich nehme das Leben nicht ernst
         glaube noch immer nicht
         Dass es ernst macht mit dem Leben
         es macht mich nicht ernst
         noch immer lächle ich ungläubig
         vor seinem Ernst, lächle
         weil ich nicht glaube, was geschah
         was das Leben geschehen ließ
         als ich lebte

Ein ganzes Leben in zehn Zeilen. Wenige schreiben hier so knapp.

Im Buch auf Entdeckungsreise gehen

Jeder Leser, jede Leserin dieser Anthologie wird sicherlich anderes entdecken, wird von etwas anderem angetippt. Vielleicht von dieser aufgeräumten Offenheit, die Marcus Roloff ausstrahlt, allein an dem fleckigen Holztisch in einem, tja, Bierlokal?

Vielleicht von dem bitterernsten Gesichtsausdruck Özlem Özgül Dündars, die so wirkt, als sei ihr die Idee zu diesen Lyrikerporträts nicht recht geheuer.

         fix im moment erstarrt meine
         ablenkung liegt nicht im bl
         ick nicht in den augen fix im
         moment erstarrt meine absch
         weifung liegt nicht in der hal
         tung des körpers nicht in der
         krümmung der schultern fix
         schweift der blick im bild wi
         e sticht die fixierung mi
         ch fest bin ich gelenkt nein
         lenke ich mich nein schweife
         ich nein merke ich auf

meine meine, mich mich, ich ich; dazu viermal "nicht", dreimal "nein" in zwölf Zeilen - überdeutlich der Widerstand.

Was ein Gesicht verrät - oder auch nicht

Aber wieso sollte man sich auch fotografieren lassen, fragt Nancy Hünger in ihrem klugen Einleitungsessay. Was verrät ein Gesicht? Wie sehr bin das tatsächlich "ich" auf einem Foto? Trifft das Bild, trifft der Text daneben die Dichterin, den Dichter, und enthüllt den Charakter, das Wesen?

100 Lyrik-Autorinnen und Autoren haben zugestimmt, sich fotografieren zu lassen und sich mit einem - zumeist neu geschriebenen - Text selbst vorzustellen. Erstaunlich... und: erfreulich! Denn ob es ihnen gefällt oder nicht: ein Poem lesen und ein Antlitz anschauen zu können, ist für Leser ein Schrittchen mehr Kennenlernen, ist zweifaches Näherkommen. Und plötzlich kommt die Erkenntnis:

Vom Gedicht zum Gesicht ändert sich nur ein Buchstabe; und in beidem steckt ein - Ich.

Das Gedicht & sein Double

von Dirk Skiba
Seitenzahl:
224 Seiten
Genre:
Bildband
Zusatzinfo:
100 Schwarz-weiß Porträts - Hrsg. von Nancy Hünger und Helge Pfannenschmidt, Essay von Nancy Hünger
Verlag:
Edition Azur
Bestellnummer:
978-3942375368
Preis:
34,90 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 17.03.2019 | 17:40 Uhr

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