Bildband und Gedichtsammlung zugleich
Man liest es in allen Literaturmagazinen, die deutschsprachige Lyrik boomt. So viele junge Autorinnen und Autoren wie selten zuvor schreiben Gedichte - und bleiben dabei doch unbekannt. Denn der Buchmarkt giert vor allem nach Promis und feiert, diskutiert, beachtet fast nur Romane. So gleicht der seit zwei Jahrzehnten andauernde Lyrik-Boom ein wenig einer Blütenpracht im Schatten.
Die zeitgenössische Lyrikszene im Porträt
Ein bemerkenswerter Bildband wirft etwas Licht auf die Szene, indem er Fotografie und Lyrik kombiniert: "Das Gedicht und sein Double" heißt das Buch; eine Gedicht-Anthologie und ein Fotokunstbuch mit Porträts der Menschen, die Gedichte schreiben.
Schwarz-weiß, was sonst. Erste Wahl für Porträts. Die zeigen: klare Konturen. Amüsierte Grübchen, wehende Strähnen, kantiges Stoppelkinn. Ab und an: tiefe Falten, Lebenszeichnungen. Dann wieder: Alabasterwangen, jugendlich, weich.
Was auffällt: Deutschsprachige Lyrik ist jung. Unter 50 die meisten, mehr als ein Drittel der Porträtierten jünger als 40.
100 sehenswerte Köpfe
Fotograf Dirk Skiba versammelt sehenswerte Köpfe: von freundlich-zugewandt bis skeptisch-distanziert. Schauend, beobachtend, sehr oft nachdenklich.
Lyriker suchen selten den großen Auftritt. Mehrdeutig, vielschichtig sind ihre Verse und Blicke. Jedes Bild dieses Bandes hat etwas Intimes; man fühlt sich den Personen nah, die sich zeigen und zugleich verstecken in ihrem niedergeschriebenen Selbstporträt.
"ich bin ein unkonzentriertes undiszipliniertes flatterhirn"
schreibt Michelle Steinbeck - und porträtiert sich in nur drei Zeilen. Sehr konzentriert und diszipliniert.
"und ein zwinglianisches arbeitssüchtiges moraläfflein."
Klingt schon strenger. Und wird sogleich wieder umgestülpt.
"und ein zufriedenes gefrässiges faultier."
Dazu sieht eine junge Frau mit Schalk im Blick die Betrachter direkt an. Hochgeschlossen die Rüschenbluse, hinterm Kopf die Finger im dunklen Haar, herausfordernd, amüsiert und jederzeit bereit sich zu entziehen.
Ein Leben in wenigen Zeilen
Kito Lorenc: gerunzelte Stirn, schmerzlicher Blick durch rechteckige Brillengläser, der Mund ein Strich im weiß-grauen Bart. Polohemd und Strickjacke über dem massigen Körper; im Hintergrund ein alter, gebeugter Baum.
Tage und Jahre gehen
Und ich nehme das Leben nicht ernst
glaube noch immer nicht
Dass es ernst macht mit dem Leben
es macht mich nicht ernst
noch immer lächle ich ungläubig
vor seinem Ernst, lächle
weil ich nicht glaube, was geschah
was das Leben geschehen ließ
als ich lebte
Ein ganzes Leben in zehn Zeilen. Wenige schreiben hier so knapp.
Im Buch auf Entdeckungsreise gehen
Jeder Leser, jede Leserin dieser Anthologie wird sicherlich anderes entdecken, wird von etwas anderem angetippt. Vielleicht von dieser aufgeräumten Offenheit, die Marcus Roloff ausstrahlt, allein an dem fleckigen Holztisch in einem, tja, Bierlokal?
Vielleicht von dem bitterernsten Gesichtsausdruck Özlem Özgül Dündars, die so wirkt, als sei ihr die Idee zu diesen Lyrikerporträts nicht recht geheuer.
fix im moment erstarrt meine
ablenkung liegt nicht im bl
ick nicht in den augen fix im
moment erstarrt meine absch
weifung liegt nicht in der hal
tung des körpers nicht in der
krümmung der schultern fix
schweift der blick im bild wi
e sticht die fixierung mi
ch fest bin ich gelenkt nein
lenke ich mich nein schweife
ich nein merke ich auf
meine meine, mich mich, ich ich; dazu viermal "nicht", dreimal "nein" in zwölf Zeilen - überdeutlich der Widerstand.
Was ein Gesicht verrät - oder auch nicht
Aber wieso sollte man sich auch fotografieren lassen, fragt Nancy Hünger in ihrem klugen Einleitungsessay. Was verrät ein Gesicht? Wie sehr bin das tatsächlich "ich" auf einem Foto? Trifft das Bild, trifft der Text daneben die Dichterin, den Dichter, und enthüllt den Charakter, das Wesen?
100 Lyrik-Autorinnen und Autoren haben zugestimmt, sich fotografieren zu lassen und sich mit einem - zumeist neu geschriebenen - Text selbst vorzustellen. Erstaunlich... und: erfreulich! Denn ob es ihnen gefällt oder nicht: ein Poem lesen und ein Antlitz anschauen zu können, ist für Leser ein Schrittchen mehr Kennenlernen, ist zweifaches Näherkommen. Und plötzlich kommt die Erkenntnis:
Vom Gedicht zum Gesicht ändert sich nur ein Buchstabe; und in beidem steckt ein - Ich.
Das Gedicht & sein Double
- Seitenzahl:
- 224 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Zusatzinfo:
- 100 Schwarz-weiß Porträts - Hrsg. von Nancy Hünger und Helge Pfannenschmidt, Essay von Nancy Hünger
- Verlag:
- Edition Azur
- Bestellnummer:
- 978-3942375368
- Preis:
- 34,90 €
