"Der Papierpalast": Debüt der "Sopranos"-Autorin ist Bestseller
Miranda Cowley Hellers Debütroman über Liebe, Verrat, Inzest in einer dysfunktionalen Familie hat es auf Anhieb Platz eins der "New York Times"-Bestsellerliste geschafft - und ist nun auf Deutsch erschienen.
Miranda Cowley Heller hat ein Gespür für gute Geschichten: Beim US-Sender HBO hat sie Serien entwickelt und verantwortet, wie etwa die "Sopranos", "Six Feet Under" oder "The Wire".
Schwierige Entscheidung: Familie oder Jugendliebe?
Ihr Debütroman "Der Papierpalast" spielt an einem einzigen Tag. Ein Tag, an dem Elle Bishop eine Entscheidung treffen muss - die man eigentlich kaum treffen kann. Sie muss sich zwischen ihrem tollen Ehemann Peter und den drei Kindern - und ihrer Jugendliebe Jonas entscheiden, ihrem besten Freund, ihrem Herzensmenschen, mit dem sie aufgrund eines düsteren Geheimnisses nie zusammengekommen ist.
Es ist ein Sommertag, die Familie macht wie immer Urlaub in ihrem Ferienhaus auf der Halbinsel Cape Cod, dem titelgebenden "Papierpalast". Letzte Nacht, während sich drinnen alle betrunken und unterhalten haben, haben Elle Bishop und Jonas zum ersten Mal miteinander geschlafen.
Nach all den Jahren, in denen ich mir das ausgemalt hatte und nie sicher sein konnte, ob er mich noch wollte. Dann war der Augenblick da und ich wusste, jetzt passiert es: der viele Wein, Jonas’ Stimme, als er das Gedicht las, Peter, mein Mann, im Grappadunst, ausgestreckt auf dem Sofa, unsere drei Kinder schlafend in ihrer Hütte, meine Mutter mit gelben Gummihandschuhen am Spülbecken beim Abwasch, die sich nicht um ihre Gäste kümmerte. Unsere Blicke versenkten sich eine Sekunde zu lang ineinander. Leseprobe
Liebe, Verrat, Inzest, Vergewaltigung
Miranda Cowley Heller hat als Serien-Chefin bei HBO gelernt, uns in eine Szene mitzunehmen - und vor allem: witzige, lebensnahe Dialoge zu schreiben. Auch aus "Der Papierpalast" wird eine Serie werden. Das Drehbuch entwickelt Miranda Cowley Heller natürlich selbst. Genug Drama hat der Stoff: Liebe, Verrat, Inzest, Vergewaltigung. Von wegen Gute-Laune-Sommer-Roman. Denn in Rückblenden erzählt Elle die Geschichte ihrer dysfunktionalen Familie. Erinnerungsfetzen aus 50 Jahren, wie auf der Therapiecouch. Und allmählich erschließt sich beim Lesen, warum Jonas und sie nie zusammengekommen sind, als sie jung und verliebt waren:
Ich möchte ihm alles erzählen und mich von der Bürde befreien, aber das geht nicht. Er ist kaum 14 Jahre alt, und das Krähenmassaker in mir muss ich allein aushalten. (…) Ich spüre Jonas prüfenden Blick auf mir, während er versucht, die Situation einzuschätzen. "Hat Conrad dir wehgetan?" "Nein", flüstere ich. "Schwörst du das bei deinem Leben?" Ich nicke, aber mein Gesichtsausdruck verrät mich, denn plötzlich sackt Jonas in sich zusammen, als wäre ihm die scharfe Klinge der Enthüllung in die Knochen gefahren. (…) "Elle, ich verspreche dir, dass er dich nie wieder anrühren wird." Leseprobe
"Der Papierpalast" entfaltet einen starken Sog
Wie Elle hat auch Miranda Cowley Heller als Kind jeden Sommer auf Cape Cod verbracht - dem "Guardian" erzählte sie, die 70er-Jahre seien für sie eine dunkle Zeit gewesen: die Eltern total außer Kontrolle, narzisstisch und egoistisch, ständig und überall nackt, im Ashram oder auf Swingerpartys. Das bedeutete aber auch: ein Maximum an Freiheit. Den ganzen Tag barfuß, im Ozean schwimmend, ohne dass sich jemand gekümmert hätte. Diese Stimmung spiegelt der "Papierpalast" wider.
Flirrende Sommerleichtigkeit mit Strandbarbecues und rumwitzelnden Menschen, die sich sehr mögen, wechseln sich ab mit fiesen, explizit geschilderten Übergriffen und Demütigungen. Es ist hart, in diese Familie einzutauchen. Aber der Sog, den das Buch entfaltet, ist stärker. Bis zum Schluss bleibt man atemlos dabei. Und kann selbst kaum entscheiden: Der liebevolle, verlässliche, charmante britische Ehemann Peter oder der rührende, wilde, künstlerische, romantische beste Freund und Geheimnisträger Jonas?
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