Unbekannte Fotografien von Moholy-Nagy veröffentlicht
Anfang der 20er-Jahre entdeckte der ungarische Maler László Moholy-Nagy die Fotografie für sich. Heute gilt Moholy-Nagy als einer der bedeutendsten Fotografen des frühen 20. Jahrhunderts. Ein Klassiker, von dem jedes Werk bekannt und erforscht ist, könnte man meinen - aber mitnichten: Im US-amerikanischen Archiv seiner Tochter Hattula hat die Kunsthistorikerin Jeannine Fiedler rund 1.000 Kontaktabzüge gefunden, von denen selbst Kenner nichts ahnten. In ihrem neuen Bildband macht sie den fotografischen Schatz nun allen zugänglich.
Moholy fotografiert aus anderen Perspektiven
In den Zwanziger Jahren bekommt Köln ein neues Wahrzeichen: den Messeturm. Schnell entwickelt sich die Aussichtsplattform des Backsteinbaus zum Besuchermagneten. Von dort bietet sich ein einzigartiger Blick über die Stadt. Auch der Bauhauskünstler László Moholy-Nagy erklimmt die Stufen. Doch anders als die Hobbyfotografen, die ihre Kameras über das Geländer halten und das Postkartenidyll auf der anderen Rheinseite knipsen, geht der gebürtige Ungar in die Knie. Moholy-Nagy fotografiert die Altstadt durch die senkrechten Stäbe der Reling - Köln hinter Gittern.
Dort, wo Ortskundige die Silhouette des Kölner Doms erwarten würden, platziert der Fotograf die Beine einer Besucherin. So kommt es, dass auf seinem Panoramabild anstelle der gotischen Türme zwei stramme Waden in Seidenstrümpfen stehen.
Linien, Treppenstufen und Muster anstatt Gebäude
"Diese Licht- und Schatten-Studie ist nicht die einzige, die über Geländergitter und deren Schattenwurf und, ja, über Frauenbeine als grafische Merkmale verfügt", erklärt Buchautorin Jeannine Fiedler. Moholy interessiert sich für das Spiel der Linien, für Abfolgen von Treppenstufen, Fensterreihen oder Muster von Pflastersteinen. In Paris positioniert er seine Kamera unter dem Eiffelturm und fotografiert nach oben ins Dickicht der Stahlstreben. Das Bauwerk als Ganzes ist ihm keine einzige Aufnahme wert.
Abzüge geben Einblick in Moholy Gedanken
Anhand der Kontaktbögen und losen Kontakte, die Jeannine Fiedler in ihrem Buch erstmals veröffentlicht, lässt sich nachvollziehen, welche Motive der Künstler auf seinen Reisen in den Fokus nahm. Digitalkameras und Smartphones, auf denen Fotos sofort betrachtet, gespeichert oder gelöscht werden können, waren zu Lebzeiten von Moholy-Nagy unvorstellbar. Damals musste das Filmmaterial noch entwickelt werden und lag dann als Negativ vor. Um die eigenen Aufnahmen betrachten und beurteilen zu können, ließen Profi-Fotografen ihre Arbeiten auf Kontaktbögen abziehen.
Mit einer Größe von 9 mal 6,5 Zentimeter sind diese Formate zu klein, um als optischer Hochgenuss zu gelten. Aber die Bilder haben einen anderen Reiz: Sie erlauben uns wie in einer Zeitmaschine 100 Jahre zurückzureisen und den Fotografen auf seinen Streifzügen zu begleiten. Welche Motive haben ihn interessiert? Aus welchen Perspektiven fotografierte er sie? Und welche Bilder markierte er mit einem roten Punkt, um sie zu später zu vergrößern? Die Miniaturabzüge geben einen faszinierenden Einblick in Moholys Gedankenwelt, in seine Arbeitsprozesse und Entscheidungen. Und sie zeigen, dass der Künstler keineswegs festgelegt war auf den experimentellen Stil, der ihn am Bauhaus so viel Bewunderung einbrachte.
"Moholy Album": Bilder wie ein Tagebuch
Mit "Moholy Album" hat die Autorin ihrem Buch einen treffenden Titel gegeben. Denn die gesammelten Kontaktabzüge sind mehr als ein fotografisches Archiv. Die Bilder lassen sich lesen wie ein Tagebuch, in dem der Künstler seine Erinnerungen bewahrte: an seine Freunde und Bauhaus-Kollegen, an die Frauen, die er liebte und bewunderte. Das Buch endet mit der Verheißung eines Neuanfangs: Hinter den Schornsteinen des Schiffes, das Moholy-Nagy 1937 ins amerikanische Exil bringt, fotografiert er die Skyline von New York.
Moholy Album
- Seitenzahl:
- 352 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Zusatzinfo:
- 26 x 34,3 cm
- Verlag:
- Steidl Verlag
- Preis:
- 68,00 €
