Stand: 01.02.2019 15:40 Uhr

Vivian Maier: Der Blick für das Besondere

von Juliane Bergmann

Das Kindermädchen, das insgeheim eine geniale Fotografin war. Seit ihrer posthumen Entdeckung nach 2009 gilt Vivian Maier als wichtige Vertreterin der amerikanischen Straßenfotografie. Bisher war sie vor allem bekannt für ihre Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Ein neuer Bildband zeigt ihr großes Können zum ersten Mal auch in Farbe.

Vivian Maier - Kindermädchen mit einem Geheimnis

New York Anfang der 50er-Jahre: Vivian Maier beginnt, als Kindermädchen zu arbeiten. Bis weit über 70 wird sie von einer Familie zur anderen weiterempfohlen. Eine unscheinbare, unauffällige Frau, distanziert, rätselhaft, erinnern sich ihre ehemaligen Schützlinge in Interviews:

"Ich habe sie immer Miss Maier genannt. Weil sie das so gewollt hat. Oder meine Eltern. Niemals Vivian. Sie hätte dich geköpft, wenn du sie anders angeredet hättest." aus der BBC-Dokumentation "Vivian Maier" von 2013

Verzerrte, silberne Linien. Geometrische Flächen. Glas und Metall. Ein Oldtimer, dessen Karosserie im Sonnenlicht glänzt. In der Mitte die Rückseite eines Seitenspiegels. Darin sieht der Betrachter die vorgebeugte Fotografin, lässig lehnt ihr Ellbogen auf dem Griff eines leuchtend roten Kinderwagens. Ein Mädchen guckt verkniffen daraus hervor. Ehrfürchtig berührt der Junge mit ausgestrecktem Arm das Auto.

Maiers Fotografien werden erst spät entdeckt

Immer wieder nimmt das Kindermädchen Vivian Maier ihre Zöglinge mit auf Streifzüge durch die Stadt. Stets dabei ist ihre Kamera. Die Fotos, die entstehen, zeigt sie niemandem.

Sie verstaut sie in Kartons, mietet dafür über Jahrzehnte einen Lagerraum. Bei einer Zwangsversteigerung kommen sie kurz vor ihrem Tod 2007 zum Vorschein: 100.000 Negative, 700 Rollen unentwickelte Farbfilme.

Diskrete Aufnahmetechnik

Die Rückenansicht einer älteren Frau. Erschöpft hat sie sich am Straßenrand auf einen Hydranten gesetzt. In beiden Händen hält sie je eine volle Papiertüte, aus denen fast ihre Einkäufe platzen. Ihr roter Mantel und das rote Metall ihrer ungewöhnlichen Sitzgelegenheit fließen nahtlos ineinander. Der Kopf des Hydranten betont die Formen ihres Pos. Verblüffend, wie elegant der Fotografin der Spagat zwischen Melancholie und Komik mit ihren Bildern gelingt. Die Dame, die die Last ihres Alltags kaum bewältigen kann. Ihre herrlich pragmatische Pause - genial eingefangen.

Stadtansichten, Porträts von Fußgängern, kleine skurrile Stillleben - in diesem Bildband spielt der Tupfer Farbe oft eine entscheidende Rolle: drei Passanten, zufällig an derselben Kreuzung. Die Frau unter ihnen trägt einen sonnengelben Rock, die Männer beide knallgelbe Shorts. Ihre Uniformiertheit hat etwas Satirisches. Eine Aufnahme zeigt eine grimmig Wartende auf einer Bank. Ihr fröhlich hellblauer Trenchcoat steht geradezu in Kontrast zum muffeligen Gesichtsausdruck.

Ganz nah kommt der Betrachter den fotografierten Menschen. Sie wirken natürlich: nachdenklich, schmunzelnd, gestresst. Das spricht für Vivian Maiers wunderbare Beobachtungsgabe. Für ihre diskrete Aufnahmetechnik - eine vorm Bauch baumelnde Rolleiflex-Kamera. Und sicherlich auch für ihre dezente Erscheinung, die ihren Mitmenschen das Gefühl gab, unbeobachtet zu sein.

Versteckte Selbstporträts

"Um ehrlich zu sein, ich hatte Angst, zu viel über sie zu wissen. Natürlich bereue ich heute, dass ich nichts über ihr Leben wusste, das in der Retrospektive so interessant wirkt. Ich fürchtete einfach, ihr zu nahe zu kommen", sagt der Besitzer eines Kinos in Chicago, in dem sie jahrelang Stammbesucherin war in der BBC-Dokumentation "Vivian Maier" von 2013.

Auch in diesem Bildband finden sich etliche brillante Selbstporträts. Mal nur als keck versteckter Schatten im Bildrand, mal vor Spiegeln oder Glasscheiben. Etwa in biederem dunkelblauen Mantel, opulent gold-gerahmt in einem Galerie-Schaufenster. Scheinbar als Ausstellungsstück zeigt sich Vivian Maier. Dabei ernst und suchend ihr Blick. Ernst und suchend - eine Beschreibung, die gut auf die ganze Frau passt.

Vivian Maier - Die Farbphotographien

von
Seitenzahl:
240 Seiten
Genre:
Bildband
Zusatzinfo:
Mit Texten von Joel Meyerowitz und Colin Westerbeck. 153 Farbtafeln. Großformat: 26 x 31,5 cm, gebunden.
Verlag:
Schirmer/Mosel
Bestellnummer:
978-3-8296-0862-6
Preis:
58,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 03.02.2019 | 17:40 Uhr

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Fotografie

Porträt

Bildbände

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