Ayla Goldmann im Portrait © privat

Ayala Goldmann: Auf den Spuren einer verlorenen Familie

Stand: 21.01.2022 06:00 Uhr

In ihrem Buch "Schabbatkind. Geschichten meiner Familie" ergründet die Journalistin Ayala Goldmann nicht nur die Geschichte ihrer Familie, sondern auch ihre eigene Identität als deutsche Jüdin.

Ayala Goldmanns Spurensuche begann mit dem Tod ihres Vaters, Shraga Felix Goldmann. Er wurde 1935 in Berlin als siebtes Kind einer jüdischen Familie geboren und emigrierte mit dieser drei Jahre später nach Haifa. Als junger Mann kehrte er nach Deutschland zurück und machte Karriere als Arzt. In der liebevollen Auseinandersetzung mit dem starken Vater ergründet Ayala Goldmann nicht nur die Geschichte ihrer Familie, sondern auch ihre eigene Identität als deutsche Jüdin.

Als ihr Vater 2017 starb, begannen Sie eigentlich erst so richtig, sich mit Ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Es gab schon einmal davor einen Ansatz - mit 30 Jahren, schreiben Sie in Ihrem Buch. Das wirkt ein bisschen so, als ob Sie das damals dann doch wieder zurückgestellt haben, vielleicht sogar ein bisschen daran gescheitert sind. Warum erst diese späte Auseinandersetzung mit der eigenen Familie?

Ayala Goldmann: Ich muss dazu sagen, dass von unserer Familie mindestens 13 Menschen in der Shoa ermordet wurden, im Warschauer Ghetto oder in Treblinka höchstwahrscheinlich. Wir haben keine Spuren. Ich glaube, dass ich mit 30 Jahren einfach noch nicht so weit war, mich wirklich damit auseinanderzusetzen. Mit 30 - bei mir war das jedenfalls so - war ich so dermaßen damit beschäftigt, mich selbst zu finden und mich selbst irgendwie zu verorten in der Welt, dass ich damit nicht klargekommen bin und mich das eigentlich eher abgelenkt hat von dem, was für mich wirklich wichtig war. Und deswegen habe ich das auch irgendwann wieder zu Seite gestellt, weil ich das Gefühl hatte, damit werde ich jetzt gar nicht fertig. Das führt mich eigentlich eher in die Irre. Ich denke, das haben viele Menschen so, die sich mit ihrer jüdischen Familiengeschichte auseinandersetzen. Irgendwann kommt die Frage was bedeutet das für mich? Und da muss man auch irgendwann mal ganz klar sagen: Inwiefern bin ich wirklich davon beeinflusst? Und was ist mein eigenes Leben, was damit gar nichts zu tun hat? Und ich glaube, dass ich erst nach dem Tod meines Vaters - da war ich 48 - so weit war, mich diesem Thema so zu nähern, wie es eigentlich angemessen war.

Die Daten zum Buch

Titel: "Schabbatkind. Geschichten meiner Familie"
Autorin: Ayala Goldmann
Preis: 19,90 Euro
Bestellnummer: 978-3-95565-472-6
Seitenzahl: 182
Verlag: Hentrich & Hentrich

Und wie war es angemessen?

Goldmann: Das war ehrlich gesagt relativ intuitiv. Ich wusste, dass die Familie meiner Großmutter mit Familiennamen Agajster hieß, und ich habe einfach ganz banal bei Google gesucht. Ich war total erstaunt, als ich einen Treffer hatte und eine Großtante von mir, Taube Agajster, im Sterberegister des Warschauer Ghettos gesehen habe. Sie war im März 1941 gestorben. Es gab auch eine Todesursache - Grippe. Und das hat mich dann erst einmal ins Grübeln gebracht, weil ich zuerst dachte, wirklich naiv, wie ich damals war: "Wunderbar, das ist eine natürliche Todesursache. Sie wurde nicht in der Shoa ermordet. Sie ist eines natürlichen Todes gestorben - im Bett." Und dann kam bei mir so ein gewisser Prozess in Gang, weil ich dann dachte: "Moment mal, man hat die Leute ja verhungern lassen. Das heißt, unter den Umständen ist es kein natürlicher Tod, wenn jemand an der Grippe stirbt." Das hat mich dann dazu geführt, noch weiter zu suchen und nach Warschau zu fahren. Und ja, was heißt angemessen? Ich denke, angemessen bedeutet, dass man sich damit auseinandersetzt, dass man aber auch nicht jedes Ereignis, was einem selbst im Leben widerfahren ist, damit in Zusammenhang bringt oder dadurch erklären will. Und dass man dann auch in der Lage ist, es irgendwann soweit abzuschließen, dass es einen nicht dauernd beschäftigt, weil es furchtbar deprimierend ist.

Sie machen so ein kleines Wortspiel an einer Stelle: "Für mich sind es Geister - wie Ihr Familienname Agajster." Sind es gute oder böse Geister?

Goldmann: Ich habe mich, als ich dieses Buch geplant habe, gefragt, ob ich es wirklich schreiben soll, weil es sehr viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen gibt, die über ihre jüdische Familiengeschichte geschrieben haben. Und ich bin Journalistin und keine Schriftstellerin. Als ich diesen Satz geschrieben habe, ging es mir einfach darum zu sagen: "Ich weiß nicht, wer diese Menschen waren." Ich kenne ungefähr die Eckdaten ihres Lebens. Ich habe keine Fotografien. Ich weiß nicht, was sie beruflich gemacht haben. Vielleicht außer bei meinem Großonkel, den ich in einem Archiv gefunden habe, in einer polnischen Zeitung, besser gesagt. Ich kann auch kein Leben für sie erfinden. Und ich werde es auch gar nicht erst versuchen, weil es mir nicht gegeben ist. Und deswegen bleiben sie insofern Geister, weil ich sie nicht wirklich zu fassen bekomme. Ich weiß, dass sie gelebt haben, aber mehr weiß ich nicht über sie.

Ich hatte bei der Lektüre das Gefühl, dass das Schreiben für Sie notwendig war, weil damit auch einen Prozess für Sie abgeschlossen wurde. Hatte das was Therapeutisches?

Goldmann: Ja, auf jeden Fall. Das geht um Fragen, die mich eigentlich mein ganzes Leben lang umgetrieben haben und denen ich mich in jungen Jahren nicht wirklich gestellt habe. Und jetzt habe ich das Gefühl, ich habe nicht unbedingt Antworten gefunden, aber ich habe die Fragen formuliert, ich habe die Fragen zu Papier gebracht, und ich habe hoffentlich ein Bild einer Familie gezeichnet mit den verschiedenen Schicksalen, das auch für die nächsten Generationen interessant sein wird. Ich denke mal, dass mein Sohn und die anderen Kinder unserer Familie diese Zeitzeugen, mit denen ich noch gesprochen habe, nicht mehr erleben und später mal auf dieses Buch zurückgreifen können und sehen können, was aus ihnen geworden ist. Und ich denke, das ist nicht nur für uns interessant. Das ist auch für andere Leser interessant, sonst hätte ich es ja nicht veröffentlicht. Ich war sehr froh, dass ich das gemacht habe. Es tut mir nur leid, dass mein Vater das nicht mehr erleben konnte. Ich glaube, er hätte sich sehr gefreut. Aber nichtsdestotrotz denke ich, Schreiben ist immer was Therapeutisches. Sonst hätte ich vielleicht auch einen anderen Beruf ergriffen.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur à la carte | 21.01.2022 | 13:00 Uhr

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