Stand: 19.07.2019 16:00 Uhr

Die übrig gebliebenen Mosaiken der UdSSR

von Matthias Schümann

Mosaiken stehen im Mittelpunkt eines Buches aus dem Berliner Lukas-Verlag. Genauer gesagt: Mosaiken in Regionen, die früher einmal zur Sowjetunion gehörten. Dort waren Mosaiken im Alltag nicht wegzudenken: an Häuserwänden, in U-Bahn-Stationen, in Eingangshallen repräsentativer Bauten.

Viele dieser Kunstwerke sind noch in ehemaligen sowjetischen Republiken zu sehen, aber weil es immer weniger werden, haben sich zwei Rostocker aufgemacht, diese Kunstwerke des Sozialismus zu dokumentieren.

Eine Frau in einem modernen kurzen Kleid kniet am Boden. Gesicht und Oberkörper hat sie einer großen, aus zahllosen Steinchen in verschiedenen Gelbtönen zusammengesetzten Sonne entgegengestreckt. In ihren Händen hält sie wie eine Friedenstaube - das Modell eines Atoms. Die Frau ist Teil eines großen Mosaiks aus dem Jahr 1971, zu sehen ist es im Expo-Ausstellungspark in der georgischen Hauptstadt Tbilissi (früher Tiflis).

Relikte sowjetischer Herrschaft

Weitaus martialischer geht es an der Fassade eines Wohnblocks in der ukrainischen Stadt Charkiw zu. Eine Gruppe von Männern schwenkt rote Fahnen mit Hammer und Sichel, im Vordergrund steht ein Soldat mit langem Mantel und Stahlhelm, in die Höhe reckt er ein Maschinengewehr. Es dominieren die Farben Weiß, Blassblau und Blassgrau; nur das Rot der Fahnen ist wirklich leuchtend rot.

Als die Sowjetunion zerfiel, traten die unter ihrem Dach zusammengefassten Republiken wieder als selbständige Staaten in den Vordergrund. Was aber blieb, das waren die Relikte der sowjetischen Herrschaft, die Kunst auf Straßen und Plätzen, und besonders gut sichtbar: die Mosaiken an den Gebäuden.

Der Rostocker Künstler Aram Galstyan wuchs in Jerewan in Armenien auf. Er kennt diese großformatigen Kunstwerke aus seiner Jugend, täglich ist er an ihnen vorbeigelaufen: "Die waren allgegenwärtig. Erst im Nachhinein, wenn ich jetzt daran denke, wird mir klar, ich fand das schön und bunt, aber dass das eine besondere Kunst ist und dass das irgendwie etwas Anderes ist, war mir nicht bewusst.

Als Aram Galstyan und die Rostocker Pädagogik-Professorin Katja Koch vor einigen Jahren begannen, ausgedehnte Reisen in ehemalige Sowjetrepubliken zu unternehmen, legten sie ihr Augenmerk immer mehr auf die Mosaikkunst. Mittlerweile haben sie tausende Fotos von kleinen und großen, offen zugänglichen und versteckten Mosaiken angehäuft.

Werke zwischen Realismus und Propaganda

"Für mich war das tatsächlich so etwas wie eine Erleuchtung. Man kennt das ja aus dem Gebiet der ehemaligen DDR auch, dass da Mosaikkunst eine gewisse Rolle gespielt hat, aber in dieser Monumentalität hatte ich das tatsächlich selten gesehen", erzählt Katja Koch.

Auf den ersten Blick: sozialistischer Realismus und Propaganda, wohin man auch schaut. In Almaty in Kasachstan weist ein weiß gewandeter Kosmonaut mit großer Geste in den Himmel. In Krywy Rih in der Ukraine streckt eine Frau ihr Kind der Sonne entgegen. Zukunft, Fortschritt und der Sieg über den Faschismus sind Themen, die die Künstler in diesen Werken darstellen. Und natürlich Sport und Politik. In Charkiw trägt ein Eishockeyspieler ein Spruchband um die Brust: "O спорт! ты мир!" - O Sport! Du bist der Frieden!

Thematisch geordnete Fotosammlung

Geordnet sind die mehr als 500 Fotos des Bandes nach Lebensbereichen beziehungsweise nach Standorten: Arbeit, Freizeit, Kultur, Bushaltestellen. Diese Anordnung ist eine Notlösung, bekennen die beiden Autoren, denn - und hier beginnt der Band überraschend zu werden - die Mosaiken sind thematisch vielgestaltig, sehr komplex, und mitunter offenbar gar nicht so sehr auf der Linie der sozialistischen Ideologie.

Katja Koch war überrascht: "Was für mich eine Entdeckung war, war die Verschiedenheit innerhalb der Sowjetrepubliken. Dass sie äußerst unterschiedliche kulturelle Wurzeln haben und dass die sich wiederum in dieser Art Kunst sehr gut zeigen, das war mir vorher auch nicht so klar, muss ich gestehen."

Deutlich wird das zum Beispiel in einem Werk in Bishkek in Kirgistan. Zwei Figurengruppen mit unscharfen Konturen scheinen da in einem impressionistischen Meer aus blauer, gelber und weißer Farbe zu schwimmen. Sechs Frauen und Männer in traditionell anmutenden Gewändern, mit weißen Hauben und Hüten - ihnen gegenüber stehen modern gekleidete Menschen, Wissenschaftler vielleicht oder Funktionäre. Aber auch sie sind unscharf, und die rote Fahne, die hinten hochgehalten wird, ist eher ein farbiger Akzent als ein Symbol.

Immer mehr Menschen setzen sich für den Erhalt der Kunstwerke ein

Die Zeit allerdings zieht über alle diese Werke hinweg. Auf vielen Fotos ist auch die Umgebung dokumentiert. Bröckelnde Fassaden, baufällige Häuser. Oft sind von den Mosaiken tatsächlich nur noch Bruchstücke übrig. In Weißrussland sind die Kunstwerke geschützt, in allen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken nicht. Dort verschwinden sie nach und nach.

"Es gibt ein Beispiel aus Kirgistan, wo die Bewohner eines Wohnhauses gesagt haben, wir wollen das Ding behalten und dafür gesorgt haben. Es gibt zwar immer mal einzelne Initiativen, aber im Großen und Ganzen werden die Häuser einfach abgerissen. Dann kommt eine Shopping Mall hin und gut ist", sagt Katja Koch.

Doch es gibt eine wachsende Zahl von Menschen, die sich für die Kunstwerke einsetzen. Katja Koch steht über das Internet in Kontakt mit ihnen und begegnet dabei vor allem jungen Leuten, die sich für das Erbe aus Sowjetzeiten interessieren.

Mosaiki

von Aram Galstyan und Katja Koch
Seitenzahl:
288 Seiten
Genre:
Bildband
Zusatzinfo:
510 Abb., 210 x 260 mm, Festeinband, Farbfotografien
Verlag:
Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte
Bestellnummer:
978-3-86732-300-0
Preis:
39,80 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 21.07.2019 | 17:40 Uhr

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