Stand: 23.02.2023 18:00 Uhr

1935: Aufbau militärischer Macht und "Nürnberger Rassegesetze"

von Hajo Funke, Politikwissenschaftler

Nach der gewalttätigen Konsolidierung einer unumschränkten Herrschaft des Nationalsozialismus im Jahre 1934 war das Jahr 1935 nach außen bereits von Vorzeichen der Entfesselung militärischer Macht Deutschlands und damit der von Hitler später betriebenen Expansionskriege geprägt - und nach innen davon, mit den "Rassegesetzen" den bereits praktizierten Staatsantisemitismus und allgemeinen Sozialdarwinismus zu radikalisieren. (Longerich 2001: 49) Der jüdische Tagebuch-Schreiber Victor Klemperer, der in und bei Dresden die Jahre des NS erlitten hat, resümiert das Jahr: "Immer noch 3. Reich und sehr gesunkene Hoffnung, das vierte zu erleben." (Klemperer 2015: 193)

Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht am 16. März 1935

Nach wie vor existierten in Deutschland schwere wirtschaftliche Probleme. Ablenkend wirkte die Volksabstimmung der Einwohner des Saargebiets am 13. Januar 1935 hinsichtlich einer Rückgliederung an das Deutsche Reich. Und mit der reichseinheitlichen Gemeindeordnung wurde das autoritäre Führerprinzip auch auf kommunaler Ebene durchgesetzt; die NSDAP allein hatte nun das Sagen. Zentral und ein Zeichen für die Entwicklung einer kriegsbezogenen Wirtschaft und Militärpolitik war im März die Ankündigung der Wiedereinführung einer allgemeinen Wehrpflicht; die "Reichswehr" hieß von nun an "Wehrmacht". Bereits im Februar hatte Hitler mit dem Aufbau einer Luftwaffe gegen Bestimmungen des Versailler Vertrags verstoßen. Der französische Botschafter André François-Poncet sprach von einer Art Wiedergeburt der militärischen Macht Deutschlands, deutliche Proteste aus dem Ausland blieben aber aus.

Kujau: Die Notizen der Fälschung für 1935 wirken insgesamt nichtssagend und sind geradezu eine Ablenkung und Verharmlosung auch dessen, was Hitler-Deutschland im Jahr 1935 betrieben hat. Weder ist die Rede von judenfeindlichen Handlungen noch von der Bedeutung der "Rassegesetze". Mehr noch: Hitler wird zugeschrieben, er fände die "Rassegesetze" zu scharf und wundere sich, dass das Ausland diese Radikalisierung so wenig kritisiere. Diese Einträge sind alle völlig desorientierend.

Reichsparteitag und "Nürnberger Gesetze" vom 15. September 1935

Im Juli des Jahres kam es über mehrere Tage zu gewalttätigen antisemitischen Übergriffen durch die SA, nicht nur in Berlin, sondern auch in München. Seit dem Frühjahr 1935 bis zum Reichsparteitag im September war das Jahr durch einen gewalttätigen Antisemitismus geprägt. Der Reichsparteitag wurde dann zur weiteren Radikalisierung genutzt. Adolf Hitler verkündete in diesem Rahmen die "Nürnberger Rassegesetze", die der Reichstag einstimmig angenommen hatte: Das "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" schloss Beziehungen zwischen "Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes" aus; das "Reichsbürgergesetz" machte Juden zu Bürgern zweiter Klasse. Demnach waren sie keine Reichsbürger mehr, sondern nur noch Staatsangehörige ohne politische Rechte. Das Jahr war eine weitere Etappe in der Radikalisierung antijüdischer Politik. (Nachama 2021: 68)

TB 10. bis 16.9.1935: "10. Beginn des Reichsparteitages der Freiheit. Empfang im Rathaus zu Nürnberg. Vereinbarung zwischen Reichskriegsminister und Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung. 11. Eröffnung des Parteikonßresses. Meine Proklamation. Grundsteinlegung der neuen Kongreßhalle. Kulturtagung. Preis der Partei für Kunst und Wissenschaft. 12. Appell und Vorbeimarsch des Reichsarbeitsdienstes. Fackelzug der Politischen Leiter. (…) 13. Appell der Politischen Leiter. Kundgebung der Frauenschaft. (…) Diplomatenempfang. Rede vor der Auslandsorganisation der Partei. 14. Appell der HJ. und des Jungvolks. Dritte Jahrestagung der DAF. Feierliche Fahnenweihe. 15. Appell der SA., SS., und des NSKK - Vorbeimarsch. Reichstagssitzung. Nürnberger Gesetze: Reichsflaggengesetz, Reichsbürgergesetz, Blutschutzgesetz, Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre. 16. Tag der Wehrmacht des Parteitages. Vorführungen der Wehrmacht. Schluß des Parteikongresses. Ende des Parteitages."

TB 30.9.1935: "(…) Der Reichsparteitag war eine große Anstrengung für mich, war oft am Abend am Ende meiner Kräfte. Ich glaube durch die Gesetze von Nürnberg werden wir noch einige Schwierigkeiten bekommen, die sind zu scharf abgefaßt. Einige Proteste sind schon eingegangen. Habe mir von englischer Seite eine stärkere Reaktion gedacht."

Erneut handelte es sich bei diesem Parteitag der sogenannten Freiheit - die Stichworte dazu sind bei Kujau notiert - um die zugleich weihevolle und totalitäre Inszenierung der "Volksgemeinschaft" und ihres "Führers". Anders als Kujau es glauben machen will, war es zentrales Ziel der NS-Spitze, die Rassegesetze prominent während des Parteitags beschließen zu lassen.

Angeblicher 3. Band von "Mein Kampf"

In den Kujauschen "Hitler-Tagebüchern" finden sich im Anschluss an den 31. Dezember 1935 die "Notizen 3. Band Mein Kampf". Klar ist, einen dritten Band von "Mein Kampf" aus der Feder Adolf Hitlers hat es nicht gegeben. Vermutlich von Kujau erfunden, um eine Komplettfälschung zu arrangieren und zu verkaufen. Zentrale ideologische Themen der beiden tatsächlichen Bände von "Mein Kampf" aus den Jahren 1925 und 1926 sind in diesem angeblichen Band 3 weiter fantasiert: Hitlers Rassismus, Antisemitismus und Sozialdarwinismus; die Konzeption des Führerstaats, der autokratischen Stellung der Partei im Staat und der nationalsozialistischen Massen- und Eliteorganisationen (SA und SS), sein autoritäres Konzept einer "Volksgemeinschaft", das Interesse an der ökonomischen Autarkie Deutschlands, die besondere Rolle von Bauerntum und Landwirtschaft und der entsprechenden Organisationen; im Besonderen die Bedeutung der "völkischen Kultur" sowie vermutlich die Einengung und Unterordnung der Kirchen; in der Außenpolitik die angebliche Orientierung an Frieden und die Sicherung des "völkisch-ethnischen Deutschtums".

TB nach 31.12.1935: "Der III. Band zum Buch, Mein Kampf wird sich mit der bis heute geleisteten Arbeit und der Arbeit in den kommenden Jahren befassen. Ausarbeitung eines Konzeptes für den III. Band. Erster Teil, Geistige Grundlegung 1. Von der Revolution zur Evolution. 2. Rasse und Volkstum 3. Die Judenfrage 4. Die Familie als Keimzelle des Volkes 5. Erbgesundheit. 6. Rassenreinheit. Zweiter Teil: Staatlicher Aufbau 7. Führung und Volk 8. Partei und Staat 9. Die Stellung der SA, SS im St. 10. Reich und Länder 11. Farben und Sinnbild des Reiches. Dritter Teil: Wirtschaftliche und gesellschaftliche Neuordnung. 12. Gemeinnutz vor Eigennutz 13. Bauerntum und Landwirtschaft 14. Unternehmer und Arbeiter 15. Weltwirtschaft und Selbstversorgung. 16. Arbeitsschlacht und Winterhilfe. 17. Die Deutsche Arbeitsfront. 18. Der ständische Aufbau 19. Die Stellung der Frau 20. Die Front der Jugend Vierter Teil: Völkische Kultur 21. Kunst 22. Recht 23. Schule und Hochschule 24. Körperertüchtigung 25. Der Arbeitsdienst 26. Presse und Rundfunk Fünfter Teil: Kirche und Religion 27. Die Deutsche Evangelische Kirche 28. Die katholische Kirche sechster Teil: Deutsche Außenpolitik 29. Um Frieden und Ehre 30. Ausland- und Grenzland- Deutschtum. Der gesamte III. Band steht unter dem Motto: Wir haben das Land durch Kampf erobert, jetzt müssen wir es durch Frieden bestellen. Adolf Hitler"

 

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Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Reschke Fernsehen | 23.02.2023 | 23:35 Uhr

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