Im Mai 1952 in der Nähe von Windeby bei Eckernförde beim Torfstechen gefundene weibliche Moorleiche. (Foto von 1999) © picture-alliance / dpa/dpaweb Foto: Horst Pfeiffer

Moorleiche von Windeby: Von der Ehebrecherin zum "Windeboy"

Stand: 19.05.2022 17:24 Uhr

Torfarbeiter stoßen am 19. Mai 1952 bei Eckernförde auf menschliche Knochen. Die falsche Geschlechtsbestimmung der Mumie führt zu wilden Thesen über ihre Vergangenheit. Auch darum zählt die Moorleiche von Windeby zu den bekanntesten Deutschlands.

von Jochen Lambernd

Die Woche hat am Montag, den 19. Mai 1952, gerade begonnen, als Torfstecher bei kühlen zwölf Grad eine außergewöhnliche Entdeckung machen. Im damals zu Windeby (Kreis Rendsburg-Eckernförde) gehörenden Domslandmoor finden sie während ihrer Arbeit menschliche Knochen. Sie erkennen, dass es sich um Schenkelknochen handelt. Umgehend stellen sie ihre Torfarbeiten ein und alarmieren die Polizei. Weil es sich der ersten Einschätzung nach um ganz alte Knochen handeln könnte, werden die Archäologen von Schloss Gottorf in Schleswig informiert. Fachleute bergen die Leiche daraufhin als Ganzes und dokumentieren sie. Im Archäologischen Landesmuseum wird der Fund freigelegt und eingehend untersucht.

Mumie aus der Eisenzeit ist weitgehend gut erhalten

Das Moor hat die tote Person konserviert. Die gut erhaltene Leiche liegt auf dem Rücken, den Kopf nach rechts gedreht. Um ihn ist ein Band gewickelt, das die Augen verdeckt. Die linke Hand ruht auf dem Becken, die rechte auf dem Brustkorb. Auf dem Körper liegt ein zerbrochener Holzstab. Haut, Haare und Knochen sind klar erkennbar und in einem für Forscher-Zwecke guten Zustand. Anhand einer Pollenananlyse stellt sich heraus: Die Person muss während der Eisenzeit, etwa um die Zeit Christi Geburt, zu Tode gekommen sein. Eine spätere Untersuchung nach der Radiokarbonmethode ergibt: Der Todeszeitpunkt liegt in den Jahren zwischen 41 vor und 118 nach Christus.

Das "Mädchen von Windeby" - eine Ehebrecherin?

Einige Indizien - etwa die sehr grazilen Knochen der Mumie - sprechen dafür, dass die Leiche eine junge Frau gewesen sein könnte. Wirklich gesichert ist diese Aussage damals nicht. Dennoch bekommt die Mumie den Namen "Mädchen von Windeby". Schließlich gibt es weitere Hinweise wie etwa die ungewöhnliche Frisur: Die linke Kopfhälfte ist kahl geschoren und verleitet die Archäologen zu der Annahme, das könne die Folge einer Bestrafung gewesen sein. Die rechte Hand reckt sich verkrampft empor, der Daumen ist zwischen Zeige- und Mittelfinger geschoben. Diese Geste wiederum symbolisiert den Experten zufolge die sogenannte Feige - eine Gebärde mit sexueller Aussagekraft. Sie könnte für Unkeuschheit stehen. In Kombination mit den verdeckten Augen sehen Forscher in der Leiche daher eine verurteilte Ehebrecherin aus germanischer Zeit. Die junge Frau könnte ihrem Mann untreu gewesen und zur Strafe ins Moor getrieben worden sein. Lange Zeit gilt diese Version als die wahrscheinliche Geschichte der Moorleiche von Windeby.

Der "Mann von Windeby" stützt frühe Liebes-These

Die erhaltenen Überreste der Moorleiche "Mann von Windeby", die im Archäologischen Museum Schloss Gottorf in Schleswig aufbewahrt wird. © Archäologisches Museum Schloss Gottorf Schleswig
Die bei den sterblichen Überresten des "Manns von Windeby" nachgewiesene Haselrute wurde "modern ergänzt".

Untermauert wird diese Sichtweise kurze Zeit später durch den Fund einer weiteren - männlichen - Moorleiche am 9. Juni 1952, nur wenige Meter vom ersten Fundort entfernt. Der "Mann von Windeby" weist vollständig erhaltene Haut und Kopfhaar auf, die aber von der über ihm liegenden Torfschicht plattgedrückt worden sind. Von den Knochen ist nicht mehr viel zu sehen. Diesen Toten hat das Moor nicht so gut konserviert. Bis auf wenige Stücke wurden die Knochen von Moorsäuren aufgelöst. Die Rekonstruktion ergibt, dass die Unterarme über der Brust gekreuzt und die Beine in den Knien leicht angewinkelt gewesen sind. Kleider werden nicht entdeckt. Am Fundort war die Leiche zeltartig mit armdicken Holzpfählen bedeckt. Um ihren Hals schlang sich nachweislich eine Haselrute. Diese sei für das heutige Ausstellungspräparat "modern ergänzt" worden, so Angelika Abegg-Wigg, die im Museum für Archäologie Schloss Gottorf Kuratorin der Eisenzeit ist.

Der Haselrute kommt eine besondere Bedeutung zu: Sie gilt als ein möglicher Hinweis auf Erdrosseln als Todesursache. Das könne doch nur der Liebhaber der jungen Frau sein, so die schnelle Vermutung, die damals in Zeitungen verbreitet wird. Hartnäckig halten sich die Spekulationen über eine verbotene Liebesgeschichte in der Eisenzeit über Jahrzehnte. Sogar Filme und Krimis drehen sich um ihr Schicksal.

Forscher entzaubert Mär von der unsittlichen Missetäterin

Zweifel am Geschlecht der ersten Leiche flammen in den 1960er-Jahren verstärkt auf, setzen sich in der Fachwelt und vor allem in der Allgemeinheit zunächst aber nicht durch. Doch dann entzaubert der Schleswiger Moorleichen-Forscher Michael Gebühr die Mär von der unsittlichen Missetäterin - und ab 1979 wird die Vergangenheit der Mumie aus einem neuen Blickwinkel betrachtet. Denn Gebühr entkräftet das Indiz für das angebliche moralische Fehlverhalten des "Moormädchens": Die vermeintlich obszöne Geste mit den Fingern spielte laut Gebühr erst ab dem Mittelalter eine Rolle.

Die Hand der Moorleiche "Kind von Windeby", die im Archäologischen Museum in Schloss Gottorf in Schleswig ausgestellt ist. © Archäologisches Museum Schloss Gottorf Schleswig
Die "Feigen-Geste" der Finger bekam die Moorleiche erst nach ihrer Entdeckung.

Zudem kann der Forscher anhand eines Fotos von der Ausgrabung 1952 nachweisen, dass die Hand der Leiche erst bei der Einlagerung in einen Transportkasten oder im Labor zur "Feige" verformt worden ist. Möglicherweise aus einem künstlerischen Antrieb heraus, denn der damalige Konservator ist kein Wissenschaftler, er hat eine Ausbildung als Kunstmaler. Er hat das Textilmuseum in Neumünster entwickelt und übernimmt schließlich die Konservierungsstätten im Archäologischen Landesmuseum in Schloss Gottorf. Einem "Spiegel"-Bericht zufolge hat er schon häufiger Präparate manipuliert. Und bei der "Augenbinde" handelt es sich laut Gebühr lediglich um ein verrutschtes Kopfband. Auch Reste einer Mütze kämen infrage. Eine Hinrichtung sei somit wenig wahrscheinlich.

Keine Beziehung zwischen den zwei "Moormenschen"

Um das Rätsel weiter zu lösen, werden im Jahr 2002 vergleichende Radiokarbondatierungen durchgeführt. Sie ergeben, dass zwischen dem Todeszeitpunkt beider im Moor gefundenen Menschen eine Lücke von mindestens 144, wenn nicht gar rund 300 Jahren klafft. Der Mann ist demnach zwischen 185 und 380 vor Christus, also deutlich vor dem "Mädchen", gestorben. Das bedeutet: Die beiden hatten nichts miteinander zu tun. Eine romantische Liebesgeschichte, die tragisch endete, gibt es somit nicht.

"Windeboy": Das "Mädchen von Windeby" ist ein Junge

Neuere Forschungen widerlegen die "Mädchen-Version" endgültig. Die kanadische Anthropologin und Gerichtsmedizinerin Heather Gill-Robinson hegt im Rahmen ihrer Forschungen den Verdacht, dass es sich aufgrund der stark ausgeprägten Augenwülste um einen Jungen handeln könnte. Sie lässt die Leiche in Kiel durch Computertomografen laufen und entnimmt DNA-Material aus dem Knocheninneren. Rund drei Jahre dauern ihre Untersuchungen. 2006 kann sie so gut wie zweifelsfrei nachweisen, dass es sich um eine männliche Leiche handelt - und zwar um einen 16-jährigen Jungen, der vor rund 2.000 Jahren an einer schweren Zahnerkrankung starb. "Ich taufe ihn Windeboy", scherzt Gill-Robinson nach ihrer Entdeckung.

Hinweise auf eine gewaltsame Todesursache ergeben sich bei ihren Untersuchungen nicht. Dafür stellt sie Wachstumsstörungen fest. Hunger soll dem Kind damals mehrfach zugesetzt haben. So könnten die grazilen Knochen die Folge einer Mangelerscheinung gewesen sein. Als "ungesund, sehr schmächtig, 165 Zentimeter groß" beschreibt die Forscherin den Jungen.

Dauerausstellung in Schleswig zeigt vier weitere Moorleichen

Zu sehen ist das "Kind von Windeby" in der Dauerausstellung des Museums für Archäologie Schloss Gottorf in Schleswig. Dort sind laut Kuratorin Abegg-Wigg noch weitere vier Moorleichen aus der Römischen Kaiserzeit (1. bis 4. Jahrhundert nach Christus) ausgestellt. Dank der konservatorischen Wirkung der Moore sind diese Leichen gut erhalten. Im Fundmagazin des Museums werden zwei weitere Moorleichen aufbewahrt, eine von ihnen ist der "Mann von Windeby". Sie sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich.

Um den Grund, warum die Toten im Moor deponiert worden sind, ranken sich viele Gerüchte, Mutmaßungen und Erklärungen. Verbrechensopfer oder Opfer für die Götter? Auch eine schlichte Bestattung kommt infrage. Sie wird beim "Kind von Windeby" als der wahrscheinlichste Grund angesehen.

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