Rücktritt nach 598 Tagen: Die kurze Amtszeit von Christian Wulff
Am 17. Februar 2012 gab Bundespräsident Christian Wulff seinen sofortigen Rücktritt als Staatsoberhaupt bekannt. Ein Privatkredit und ein Skandal-Anruf hatten ihn zu Fall gebracht. Rückblick auf die kürzeste Amtszeit eines deutschen Staatsoberhauptes.
Schon der Start ist holprig. Erst im dritten Wahlgang, nach etwa neun Stunden, reicht es in der Bundesversammlung für Christian Wulff zur absoluten Mehrheit. Die Opposition hat den parteilosen Joachim Gauck nominiert - der Kandidat von SPD und Grünen, der später Wulffs Nachfolger werden soll, bekommt auch zahlreiche Stimmen aus dem Lager von CDU/CSU und FDP. "Es gab sicher viele unglückliche Umstände, wie man aus der Parteipolitik ganz überstürzt nach dem Rücktritt Horst Köhlers in dieses Amt gekommen ist", so Wulff rückblickend in einem Interview mit NDR.de 2020.
Integration - Thema gefunden
Im Oktober 2010 hält Wulff dann die Rede, die zum Symbol seiner Präsidentschaft werden soll. "Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland", sagt er bei seiner Ansprache zum 20. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung in Bremen - und stößt damit eine breite gesellschaftliche Diskussion an. Was dabei etwas untergeht: Fast gleichzeitig fordert er die Muslime im Land auf, ihre Anstrengungen im Hinblick auf ihre Integration in Deutschland zu verstärken. Wulff hat, so scheint es, sein Thema gefunden. Doch schon bald sollen ganz andere Themen in den Vordergrund rücken.
Wulff-Affäre: Vom Einfamilienhaus bis zum Bobby-Car
Los geht es im Dezember 2011 mit ersten Berichten über einen Kredit für ein Einfamilienhaus in Großburgwedel bei Hannover. Drei Jahre zuvor, damals war Wulff niedersächsischer Ministerpräsident, bewilligt ihm die Frau eines befreundeten Unternehmers aus Osnabrück einen Privatkredit in Höhe von 500.000 Euro für den Kauf des Hauses. Bei einer Anfrage im Niedersächsischen Landtag zu seiner Beziehung zu dem Unternehmer verschweigt Wulff den Kredit.
"Der Rubikon ist überschritten"
Als er Wind davon bekommt, dass "Bild" zu dem Thema recherchiert und sich eine Berichterstattung ankündigt, ruft Wulff am 12. Dezember 2011 den damaligen Chefredakteur des Boulevard-Blattes, Kai Diekmann, an. Diekmann geht nicht an sein Handy - es folgt die berühmte Nachricht auf dessen Mailbox. "Der Rubikon ist überschritten", so eines der Zitate des wütenden Anrufs. Wulff gibt später an, dass es ihm nur um den Zeitpunkt der Veröffentlichung gegangen sei - nicht um die Berichterstattung an sich. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" veröffentlicht einen Artikel zu dem Telefonanruf. Die deutsche Presselandschaft tobt.
Der Druck auf den Bundespräsidenten wächst
Es folgt eine schier unendliche Flut von Berichten und Kommentaren über die mutmaßliche Beeinflussung der Pressefreiheit, Urlaubsreisen in Anwesen von Unternehmerfreunden und die Gratis-Nutzung von Automobilen. Irgendwann steht sogar ein geschenktes Bobby-Car zur Debatte. Der mediale Druck wächst immer mehr. Wulff nimmt schriftlich Stellung und bedauert, den umstrittenen Kredit im Landtag nicht erwähnt zu haben. Bei Diekmann entschuldigt er sich für die Nachricht auf der Mailbox. Doch es ist schon zu spät.
Christian Wulff tritt zurück - Debatte über den Ehrensold
Der Anfang vom Ende ist die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Wulff wegen des Verdachts der Korruption. Die Staatsanwaltschaft Hannover beantragt die Aufhebung seiner Immunität - einen Tag später tritt Wulff am 17. Februar 2012 als Bundespräsident zurück.
Am Thema Geld entzündet sich umgehend die nächste Debatte: Soll Wulff den für ehemalige Bundespräsidenten vorgesehenen Ehrensold bekommen? Das Bundespräsidialamt entscheidet, dass die Gründe seines Rücktritts politischer Natur gewesen seien - eine umstrittene Auslegung. Nicht wenige sehen vielmehr persönliche Gründe als entscheidend an und bezweifeln, dass die Kombination aus Rücktritts-Grund und sehr kurzer Amtszeit einen Ehrensold rechtfertigen. Doch Wulff bekommt das Geld, etwa 240.000 Euro pro Jahr, auf Lebenszeit.
Strafprozess gegen Ex-Staatsoberhaupt endet mit Freispruch
Am 14. November 2013 beginnt der Prozess gegen Wulff wegen Vorteilsannahme vor dem Landgericht Hannover: der erste Strafprozess gegen ein ehemaliges deutsches Staatsoberhaupt in der Geschichte der Bundesrepublik - riesiges Medieninteresse inklusive.
Auf ein Angebot der Staatsanwaltschaft nach Abschluss der Ermittlungen, das Verfahren gegen die Zahlung einer Auflage in Höhe von 20.000 Euro einzustellen, war er nicht eingegangen. Auch das Angebot des Richters, den Prozess gegen Auflagen einzustellen, schlägt Wulff aus. Er will einen "lupenreinen Freispruch". Und bekommt ihn: Gut zwei Jahre nach seinem Rücktritt spricht das Landgericht ihn frei. Er ist rehabilitiert - zumindest juristisch.
Freundschaften und Familie? Keine Fragen, bitte!
Auch privat sind es turbulente Jahre: Erst die Scheidung, spätere Aussöhnung und dann die erneute Trennung von Bettina Wulff. Das Ende der Homestorys in Hochglanz und der Überschriften in bunten Buchstaben. Das einstige Lieblingspaar des deutschen Boulevards gibt es nicht mehr. Jahre später gibt sich Wulff selbstkritisch: "Wenn ich eines wirklich gelernt habe in der damaligen Zeit, ist es, dass ich mich über Privates, Freundschaften, Beziehungen, Familiäres überhaupt nicht mehr einlasse", sagte er dem NDR 2020, zehn Jahre, nachdem er zum jüngsten Bundespräsidenten gewählt worden war.
Christian Wulff ist heute Schirmherr und Rechtsanwalt ...
Es wird ruhig um den Mann aus Osnabrück, der, so scheint es, mit dem Kapitel abgeschlossen hat. Heute ist Wulff mit einer Kanzlei in Hamburg wieder als Rechtsanwalt tätig und hat ehrenamtlich mehrere Schirmherrschaften übernommen - etwa als Präsident des Deutschen Chorverbandes und Schirmherr der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft. "Inzwischen bin ich froh, dass wieder Inhalte der Amtszeit in den Vordergrund gerückt sind und nicht alles mehr von den letzten Wochen der Amtszeit überlagert wird", so Wulff rückblickend.
... und Ehrenbürger von Osnabrück
Auch andernorts steht das politische Erbe des Altbundespräsidenten Wulff wieder im Fokus. Im April 2022 wird ihm vom amtierenden niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD) für seine Verdienste die Niedersächsischen Landesmedaille verliehen. In Wulffs Zeit als Ministerpräsident habe der die Landespolitik eineinhalb Jahrzehnte geprägt und tiefe Spuren im Bundesland hinterlassen, die bis heute sichtbar seien, so Weil. Die Stadt Osnabrück verleiht dem dort geborenen Wulff Ende Juni 2022 die Ehrenbürgerwürde. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hebt in seiner Laudation insbesondere den Satz "Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland" des einstigen Staatsoberhaupt hervor: Das sei ein unglaublich mutiger Satz gewesen, der vor allem in konservativen Kreisen als Provokation empfunden worden sei und in eine Zeit fiel, in der es Debatten mit vielen rassistischen und antimuslimischen Untertönen gegeben habe.
