Ausschnitt vom Cover des Buchs "Halt dich an deiner Liebe fest - Rio Reiser" von Gert Möbius © picture alliance / dpa

Rio Reiser: Von Ton Steine Scherben zum "König von Deutschland"

Stand: 04.10.2022 16:20 Uhr

Mit Ton Steine Scherben rüttelte Rio Reiser in den 70ern die Republik auf. Mit seinem Solo-Debüt "König von Deutschland" landete er in den 1980er-Jahren einen Hit. Er lebte ein kurzes, wildes Leben. In Berlin ist ein Platz nach ihm benannt.

von Simone Glöckler

Ralph Christian Möbius, so der bürgerliche Name von Rio Reiser, wird am 9. Januar 1950 in Berlin als jüngstes von drei Kindern geboren. Mit seinen Eltern zieht er oft um, wächst unter anderem in Mannheim, Stuttgart und Nürnberg auf. Die Musik packt ihn früh: Klein-Möbius sieht 1961 den Film "Ben Hur" und ist von der Filmmusik begeistert. Er beginnt am Klavier, die Melodien des Komponisten Miklós Rósza nach Gehör nachzuspielen. Als er die Beatles 1963 zum ersten Mal im Radio hört, ist er fasziniert. Mit 14 Jahren ist er "tödlicher Fan" der Jungs aus Liverpool und ihrer neuen Art der Musik. Für ihn steht fest: Er selbst will nichts anderes als Musik machen und Songs schreiben. Mehrere Instrumente bringt er sich selbst bei.

Rio schmeißt Schule und Lehre für die Musik

Während sich der Sohn lieber mit Musik als mit Schule beschäftigt, muss die Familie wieder umziehen: nach Nieder-Roden nahe Frankfurt. In der hessischen Kleinstadt wird Ralph von einem Freund in Rio umgetauft und nennt sich fortan auch selbst so. Die Schule schmeißt er schließlich, ebenso eine Fotografenlehre - um sich ganz der Musik zu widmen.

Generations-Hymne: "Macht kaputt, was euch kaputt macht"

Im Januar 1966 lernt Rio den gleichaltrigen Gitarristen Ralph Peter Steitz kennen und wird von ihm als Sänger seiner Band engagiert. Aus dieser Begegnung wird eine lebenslange Freundschaft. Ein Jahr später folgt Rio seinen Brüdern nach Berlin und gründet mit ihnen später die Theatergruppe Hoffmanns Comic Theater. Rio ist Hauskomponist. Eines der Lieder aus dieser Zeit - "Macht kaputt, was euch kaputt macht" - wird später zur Hymne einer Generation. Obwohl er sich dem Theater verbunden fühlt, bleibt es sein Traum, eine Band auf die Beine zu stellen und deutsche Rockmusik zu machen.

Sommer 1970: Geburtsstunde der Band Ton Steine Scherben

Die Band Ton Steine Scherben © picture-alliance / jazzarchiv Foto: Hardy Schiffler
Die Band Ton Steine Scherben räumt mit kompromisslosem Rock ordentlich ab.

Mit seinem Freund Steitz, dem Bassisten Kai Sichtermann und dem Schlagzeuger Wolfgang Seidel gründet Rio im Sommer 1970 die Band Ton Steine Scherben. Die Jungs treten im September beim "Love and Peace"-Festival auf der Ostseeinsel Fehmarn zum ersten Mal auf - und werden schlagartig bekannt. Bei der legendären Veranstaltung gibt Jimi Hendrix sein letztes Konzert. Für die neue anarchische Band um Rio beginnt der Aufstieg.

Mit "Keine Macht für niemand" ins Herz der linken Szene

Die erste Schallplatte "Warum geht es mir so dreckig" wird produziert und veröffentlicht. 1972 folgt die zweite LP mit dem Titel "Keine Macht für niemand" - und spätestens nach dieser Veröffentlichung kennt die Musiker, die sich ins Herz der linken Szene gespielt haben, fast jeder in Deutschland. Ihre Lieder sind in einer Zeit, in der die Terror-Organisation Rote Armee Fraktion von sich reden macht, der gewaltfreie Gegenpol. Sie sprechen vor allem den Jugendlichen aus der Seele.

Rio und Band ziehen aufs Land nach Schleswig-Holstein

Außenansicht des ehemaligen Rio-Reiser-Hauses in Fresenhagen bei Stadum © dpa - Bildfunk Foto: Christian Charisius
Das Rio-Reiser-Haus in Fresenhagen: Hierhin zieht Reiser sich mit Musikerkollegen Mitte der 70er-Jahre zurück.

Um den Einflüssen der kommerziellen Musikbranche zu entgehen, gründen die Musiker von Ton Steine Scherben das Plattenlabel David Volksmund Produktion und veröffentlichen darüber ihre Alben. Privat zieht Rio mit Freunden und Band 1975 von Berlin nach Fresenhagen in Schleswig-Holstein, wo sie sich ein altes Bauernhaus kaufen. Im eigens eingerichteten Tonstudio schreibt und komponiert er mit seinen Kollegen verschiedene Theaterstücke und Filmmusik.

Aus Ralph Möbius wird Rio Reiser

Ein Film ist es auch, der Möbius in Reiser verwandelt: Für die Rolle des Johnny West im gleichnamigen Fernsehfilm möchte Rio Möbius seinen "zu sehr nach Arztroman" klingenden Nachnamen ablegen. Den neuen Namen entnimmt er dem Roman "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz. Für sein darstellendes Spiel erhält Rio Reiser 1977 den Bundesfilmpreis in Gold. Es folgen mehrere Filmrollen. Mit Ton Steine Scherben bringt er zwei weitere Alben heraus: "Wenn die Nacht am tiefsten" und "IV", auch bekannt als "Die Schwarze".

Rio Reiser arbeitet nicht nur für seine Band, er textet und komponiert auch Lieder für andere Musiker und gibt Ende 1983 ein erstes Solo-Konzert. Auf Kampnagel in Hamburg sitzt Reiser allein am Flügel und singt Stücke von Marlene Dietrich, den Rolling Stones und eigene Kompositionen. Zwei Jahre später, 1985, trennen sich Ton Steine Scherben und Reiser beginnt seine Solo-Karriere.

"König von Deutschland" macht Reiser zum "Volkssänger"

Undatierte Aufnahme des deutschen Rocksängers Rio Reiser. © picture-alliance / dpa Foto: KPA
Mit "König von Deutschland" landet Rio Reiser 1986 einen Riesenhit.

Das Jahr 1986 wird für ihn das musikalisch erfolgreichste seiner Solo-Karriere. Mit Liedern wie "Alles Lüge" und "Junimond" von seiner ersten Veröffentlichung "Rio I." katapultiert er sich in die deutschen Charts. Sein erfolgreichster Song dieses Albums, "König von Deutschland", wird von da an mit ihm in Verbindung stehen: Der von der Presse neu ernannte "Volkssänger" landet damit seinen größten Hit.

Ein Jahr später tritt Rio Reiser der Anti-AKW-Bewegung bei und lässt seinen Song "Alles Lüge" für die Grünen als Wahlkampf-Lied zu. Der rastlose Künstler veröffentlicht zwei weitere Solo-Alben. Diese können kommerziell nicht an den Erfolg der ersten Platte anknüpfen, doch Reiser arbeitet unermüdlich weiter. Er komponiert wieder Filmmusik, unter anderem auch für einen "Tatort", übernimmt kleinere Rollen in Fernsehfilmen und schreibt für die Stadt Unna 1989 eine Oper.

"König von Deutschland" wird Wahlkampf-Song der PDS

Um kurz darauf seinem Unmut über die Art und Weise der Wiedervereinigung Ausdruck zu verleihen, tritt der Sänger 1990 in die PDS ein, da er sich schon "immer für Außenseiter eingesetzt habe", und erlaubt der Partei, seinen "König von Deutschland" für den Wahlkampf zu benutzen. Für einige Zeit ist das Stück unbeliebt und wird von Radiosendern boykottiert. Der Sänger kann sich aber auch ohne Radio Gehör verschaffen. Es folgen weitere Konzerte mit seinen Freunden und ehemaligen Kollegen aus der Zeit der Ton Steine Scherben, alleine am Flügel in der "Mitternachtsshow" des Hamburger Schmidt Theaters oder als Gast in diversen Talk-Shows.

Gesundheitliche Probleme: Der König tritt ab

Der deutsche Rocksänger Rio Reiser bei einem Auftritt am 25. September 1986. © picture-alliance/ dpa Foto: Andreas Kuther
Gesundheitlich geht es Rio Reiser im Lauf der Jahre nicht mehr gut - trotzdem macht er weiter.

Sein unermüdlicher Arbeitseinsatz für die Musik und vermehrter Alkoholkonsum machen sich ab 1992 bemerkbar. Trotz beginnender körperlicher Schwäche veröffentlicht Rio Reiser weitere Platten. Als 1995 seine sechste und letzte erscheint, schreibt ein Musikjournalist des Magazins "Rolling Stone": "Niemand in Deutschland schreibt so wahre, aufrichtig-radikale und nachzuempfindende Texte wie dieser melancholische Spielmann." Dem letzten Album entstammt auch wieder ein "Tatort"-Song zur Folge "Im Herzen Eiszeit", in der Reiser in einer Hauptrolle zu sehen ist.

Reiser stirbt mit 46 Jahren

Das Grab von Rio Reiser in Berlin 2016. © picture alliance / dpa Foto: Britta Pedersen
Seit 2011 ist Rio Reiser in Berlin begraben.

Im Mai 1996 begibt sich der Musiker gegen ärztlichen Rat noch einmal auf Deutschland-Tour, doch die muss er abbrechen. Körperlich total ausgelaugt, kehrt er nach Fresenhagen zurück und stirbt dort am 20. August 1996 an Kreislaufversagen und inneren Blutungen. Unzählige trauernde Fans nehmen gemeinsam mit Musikerkollegen am 1. September 1996 im Berliner "Tempodrom" beim "Konzert der Freunde" Abschied.

Mit einer Sondergenehmigung darf Reiser auf dem Privatgrundstück in Fresenhagen beigesetzt werden - und sein Grab am "Rio-Reiser-Haus" wird in den Folgejahren zur Pilgerstätte seiner Fans. Als das Grundstück verkauft werden soll, wird das Grab Reisers 2011 nach Berlin umgebettet.

Berlin macht Heinrichplatz zum Rio-Reiser-Platz

Am 21. August 2022 wird der Heinrichplatz in Berlin-Kreuzberg - wie 2019 mehrheitlich von der Bezirksverordnetenversammlung beschlossen - in Rio-Reiser-Platz umbenannt. Zeitgleich benennen auch die Berliner Verkehrsbetriebe die Haltestelle Heinrichplatz entsprechend um. Eine symbolische Rückkehr des Ton-Steine-Scherben-Sängers nach Hause, wie Kulturstaatsministerin Claudia Roth zuvor mitteilt. In den 1980er-Jahren war Roth für einige Jahre Managerin der Rockband. Einsprüche aus der Bevölkerung haben das langjährige Vorhaben zunächst auf Eis gelegt, werden im Oktober 2021 aber als unzulässig zurückgewiesen.

"Seine Utopien werden diese Welt überleben"

Der Einfluss Reisers auch auf die heutige Musikwelt zeigt sich derweil unter anderem in den erfolgreichen Interpretationen der Lieder durch Jan Plewka. Der Frontmann der Hamburger Band Selig ist immer wieder mit seinem Rio-Reiser-Programm unterwegs, "weil Rio Visionen bis über seinen Tod hinaus hatte. Seine Texte, Melodien und Utopien für Menschlichkeit und Gerechtigkeit werden diese Welt überleben." Plewka trägt sie weiter.

Weitere Informationen
Die Band Ton Steine Scherben mit ihrem Sänger Rio Reiser im Vordergrund bei einem Auftritt in den 80er-Jahren. © picture-alliance / jazzarchiv Foto: Hardy Schiffler

Chaos, Streik, Sozialkritik: Ton Steine Scherben

Politisch, sozialkritisch, aufmüpfig: Ton Steine Scherben war das musikalische Sprachrohr einer ganzen Generation. Galionsfigur der einflussreichen Rockband war Rio Reiser. Bildergalerie

Dieses Thema im Programm:

Tagesschau | 21.08.2021 | 20:00 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Leute

Porträt

Rock und Pop

Mehr Geschichte

Rudolf Hell feiert am 19. Dezember 1991 in Kiel mit seiner Frau Jutta seinen 90. Geburtstag und hebt ein Glas Sekt in die Luft. © picture-alliance / dpa Foto: Wulf Pfeiffer

Rudolf Hell: Revolutionär der Nachrichtentechnik

Der Urvater des Faxgerätes Rudolf Hell hat die Nachrichtenübertragung revolutioniert - zunächst mit dem Blatt-Schreiber. Der wurde heute vor 75 Jahren vorgestellt. mehr

Norddeutsche Geschichte