Stand: 15.04.2013 20:26 Uhr

Wer waren die Greifswalder "Anatomieleichen"?

von Matthes Klemme
Vorderseite des Hauptgebäudes der Universität Greifswald. © dpa Foto: Jens Büttner
Seit einigen Jahren geht die Universität ihrer Geschichte in der NS-Zeit nach. (Archivbild)

Seit zwei Jahren erforscht die Universität Greifswald die düsteren Kapitel ihrer Geschichte - die der Nazizeit. Auf einer am Sonnabend zu Ende gegangenen Konferenz ist deutlich geworden, dass Greifswalder Wissenschaftler stärker in das NS-System verstrickt waren als bislang angenommen. Teile der Universität waren sogar als Rüstungsbetrieb eingestuft. Außerdem ging es um die Frage des Schicksals der sogenannten Anatomieleichen, an denen angehende Mediziner ausgebildet wurden.

Grabsteine mit kyrillischen Buchstaben auf dem Neuen Friedhof

Deren Spur führt an den Rand des Neuen Friedhofs in Greifswald. Dort stehen eher unscheinbar Grabsteine mit kyrillischen Buchstaben. Russische Soldaten sind dort bestattet, aber auch die sterblichen Überreste von rund 400 menschlichen Körpern aus der Anatomie - darunter auch die von Kindern. Lange war unklar, wer sie waren und wie sie ums Leben gekommen sind. Ein vor kurzem in Moskau wiederentdeckter Untersuchungsbericht der gerichtsmedizinischen Kommission der Roten Armee über das Greifswalder Anatomiegebäude von 1947 gibt über deren Schicksal nun Aufschluss.

Bruchstückhafte Schicksale

Ein Großteil der Menschen wurde erhängt, andere sind verhungert, sagt der Uni-Archivar der Greifswalder Universität, Dirk Alvermann: "Wir kennen immer nur Bruchstücke von solchen Schicksalen. Beispielsweise liegt unter einem dieser Steine mit dem roten Stern ein polnischer Zwangsarbeiter mit dem Namen Stanislaw Zelinski. Von ihm wissen wir, dass er mit einem deutschen Mitgefangenen aus Stettin aus der Untersuchungsanstalt fliehen konnte und von der Gestapo mit Haftbefehl gesucht wurde. Dann verliert sich seine Spur und zwei Monate später war seine Leiche in der Greifswalder Anatomie."

Nachschub für die Präparationskurse

Die Namen von knapp 150 Menschen sind noch nicht geklärt, sagt Alvermann. Vor allem die Körper von polnischen Zwangsarbeitern kamen in die Greifswalder Anatomie, aber auch die von sowjetischen Kriegsgefangenen, hingerichteten Häftlingen und Wehrmachtssoldaten sowie von Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten, etwa aus Ueckermünde. Für die Universität damals ein ganz normaler Vorgang, der den Nachschub für die Präparationskurse sicherte. Heute lernen angehende Mediziner an den Körpern freiwilliger Spender. Und für die Studenten ist die Aufarbeitung dieses fast vergessenen Kapitels ein wichtiger Schritt. Letztendlich auch, um an die Opfer zu erinnern.

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | 14.04.2013 | 12:00 Uhr

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