Stand: 10.04.2015 14:08 Uhr

"Wenn ich in Ahlem bin, sage ich: 'Hallo, Vati'"

von Regine Stünkel
Ruth Gröne betrachtet in der Gedänkstätte Ahlem eine Porträtfotografie, die ihren Vater Erich Kleeberg zeigt. © NDR
Regelmäßig kommt Ruth Gröne in die Gedenkstätte Ahlem, um ihres Vaters zu gedenken.

Vor 70 Jahren haben amerikanische Truppen das KZ Hannover-Ahlem befreit. 750 Gefangene starben dort an Hunger und Seuchen oder wurden von den Nationalsozialisten ermordet und zu Tode gefoltert. Die meisten Gefangenen zwang die SS noch kurz vor der Befreiung am 10. April 1945 zu einem Todesmarsch in das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Heute erinnert in Ahlem eine Gedenkstätte an die Gräueltaten der Nationalsozialisten. Die Jüdin Ruth Gröne besucht sie regelmäßig - und erinnert sich dabei an ihre eigene Familiengeschichte.

In der Gedenkstätte ist sie ihrem Vater nah

Die Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt Ruth Grönes Vater im Porträt. © NDR
Erich Kleeberg kam 1944 ins Gestapo-Gefängnis in Ahlem, weil er herabgefallene Getreidekörner vom Boden aufgelesen hatte.

Am Eingang der Gedenkstätte hängt ein großes Schwarz-Weiß-Foto von Ruth Grönes Vater. Erich Kleeberg, so sein Name, trägt darauf einen stattlichen Anzug, seine Haare sind sauber zurückgekämmt, seine Augen sehen sanft und gutmütig aus. Ruth Gröne hat ihren Vater hier als junges Mädchen zum letzten Mal gesehen. Noch heute schmerzt sie der Gedanke daran. "Immer wenn ich hierher komme, dann begrüße ich ihn, als wäre er da. 'Hallo Vati, Schön, dass deiner hier gedacht wird.' Es ist jedes Mal schmerzlich, aber es ist auch eine große Freude. Für mich ist das ein Wunder, dass diese Gedenkstätte hier entstanden ist", sagt sie.

Verhaftung wegen Getreide

Ruth Gröne war zehn Jahre alt, als sie mit ihrem Vater und ihrer Mutter ins sogenannte Judenhaus in Ahlem ziehen musste. Die Nationalsozialisten missbrauchten die ehemalige Gartenbauschule als Sammelstelle für Deportationen. Auf dem Gelände gab es auch ein Gestapo-Gefängnis, in das Ruth Grönes Vater im November 1944 gesperrt wurde. Der Grund: eine Lappalie. Auf dem Feld, beim Dreschen im Herbst, fallen Körner herunter. "Mein Vater und noch ein anderer jüdischer Mann haben dieses Korn aufgefegt und durch ein Sieb gerüttelt, für die Kaninchen. Das ist verraten worden. Und da sind Herr Samuel und mein Vater von der Gestapo verhaftet worden", erzählt Ruth Gröne.

Eine Nahaufnahme des handschriftlichen Briefes, den Ruth Grönes Vater am 17. Januar 1945 an sie schickte. © NDR
In der Gedenkstätte Ahlem hängen die Abschiedsbriefe von Ruth Grönes Vaters. Er hatte sie in der Wäsche versteckt.
Abschiedbriefe in der Wäsche

Nur zwei Mal durfte Ruth Gröne ihren Vater im Gestapo-Gefängnis in Ahlem besuchen. Er litt sehr unter Hunger. In seiner Wäsche versteckte er Abschiedsbriefe, die er heimlich an seine Frau und seine Tochter geschrieben hatte. Er machte sich große Sorgen um seine Familie. "Er schrieb, dass ich mich um meine Mutter kümmern soll, dass ich immer brav und artig sein soll, ihr gehorchen soll. Er wusste nicht, ob er überlebt, ob wir auch den Krieg überleben. Es hätte ja sein können, dass ich auch noch in ein Lager gekommen wäre", sagt die Tochter.

Die Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt Ruth Gröne mit zwölf Jahren vor ihrem Wohnhaus, dem 'Judenhaus' in Hannover-Ahlem. © NDR
Ruth Gröne hat zwölf Jahre im "Judenhaus" in Hannover-Ahlem verbracht. Ihren Vater beobachtete sie durch die Gitterstäbe des KZs.
Irgendwann war der Vater fort

Ruth Gröne kann sich genau an den Augenblick erinnern, als sie ihren Vater zum letzten Mal sah. Damals ging sie als junges Mädchen jeden Tag am Gestapo-Gefängnis in Ahlem vorbei und versuchte, ihn hinter den Gitterstäben zu entdecken. "Ich habe ihn immer oben am Fenster gesehen. Er hat schon gewartet. Bis ich ihn eines Tages nicht an dem Fenster gesehen habe, sondern an einem anderen. Da hatte er den Mantel an und seine Mütze auf. Es war für mich ein Zeichen, dass er das Gebäude verlässt. Er fuhr weg, und wir Kinder haben noch gewunken. In dem Moment war mir nicht so bewusst, dass es der letzte Moment ist. Eigentlich haben wir nur 'Tschüss' gewunken. Im Nachhinein, in der Erinnerung, da kommt dieses Bild natürlich immer wieder."

Die Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt die Jüdin Ruth Gröne mit ihren Eltern und ihren Großeltern zusammen im Wohnzimmer. © NDR
Ruth Gröne feierte mit ihren Eltern und ihren Großeltern symbolisch Einschulung. Als Jüdin durfte sie nicht eingeschult werden.
Am Tag der Befreiung stirbt der Vater

Ruth Grönes Vater wurde von Ahlem aus in das KZ Neuengamme deportiert. Schließlich kam er in das Lager Sandbostel bei Bremervörde. Dort starb er am 10. April 1945 an Typhus. Es ist ausgerechnet der Tag, an dem das KZ Ahlem befreit wurde. "Die Befreiung haben wir im Bunker erlebt. Das Wunderbare war, dass die Nazis nicht mehr da waren. Manche fragen: 'Haben Sie gefeiert?' Ich antworte immer: 'Nein, wir haben nicht gefeiert. Wir haben gehofft, dass wir unsere Angehörigen wiedersehen.'"

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Hallo Niedersachsen | 23.07.2014 | 19:30 Uhr

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