Stand: 24.02.2010 18:23 Uhr

"Vernachlässigung hat viele Gesichter"

Kinderschützer Klaus Machlitt  Foto: Irene Altenmüller
Der Psychologe Klaus Machlitt macht sich für den Kinderschutz stark.

Der Fall der verhungerten Jessica aus Hamburg löste bundesweit Entsetzen aus. Wie lassen sich Kinder wirksam vor Gewalt und Vernachlässigung schützen, welche Maßnahmen helfen gefährdeten Familien? NDR.de sprach mit Klaus Machlitt, Psychologe und Mitarbeiter des Kinderschutzzentrums in Hamburg.

NDR.de: Der schreckliche Tod der siebenjährigen Jessica in Hamburg liegt nun fünf Jahre zurück. Was hat sich seither getan?

Klaus Machlitt: Seit dem Fall Jessica hat sich die Aufmerksamkeit für das Thema Kindesvernachlässigung erheblich vergrößert, sowohl in der Bevölkerung als auch in der Fachwelt. Es gibt eine intensivere Diskussion darüber, was wir überhaupt unter Kindeswohlgefährdung verstehen, was wir tun können, wie wir Risiken besser einschätzen können und wie wir einen guten Zugang zu den Familien bekommen und erhalten. Diesen guten Zugang brauchen wir, um überhaupt mitzubekommen, wie es einem Kind geht.

NDR.de: Hierzu gab es auch die Forderung nach verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen für Kinder. Mittlerweile haben mehrere Bundesländer derartige Regelungen eingeführt. Ein taugliches Mittel?

Machlitt: Die Frage hierbei ist: Was passiert, wenn die Vorsorgeuntersuchungen nicht eingehalten werden? Dazu gibt es sehr unterschiedliche Haltungen. Aufgrund unserer Erfahrungen sind wir vom Kinderschutzzentrum der Meinung, dass Vorsorgeuntersuchungen allein kein Instrument sind, das Kindern zu mehr Sicherheit verhelfen kann. Wenn wir uns etliche Kinderschutzfälle anschauen, stellen wir fest, dass die Familien durchaus alle Vorsorgeuntersuchungen wahrgenommen haben. Aber was passiert mit dem Kind in der Zeit zwischen den Untersuchungen? Generell halten wir mehr von präventiven Maßnahmen als von kontrollierenden. Eine Hilfe, die von der Familie akzeptiert wird, ist immer wirksamer als eine Hilfe, die der Familie aufgezwungen wird. Aus unserer Perspektive lautet die Frage daher nicht so sehr "Wie viel Druck ist nötig, damit sich eine Familie helfen lässt?", sondern "Wie gewinnen wir die Familie dafür, sich helfen zu lassen?". Natürlich gibt es auch Situationen, in denen wir um Kontrollmaßnahmen nicht herum kommen. Kinderschützer stehen immer in dem Konflikt abzuwägen, wie viel Hilfe nötig ist und wie viel Kontrolle. Unsere Haltung ist aber, zunächst einmal alle Möglichkeiten im Bereich der Hilfen auszuschöpfen, bevor wir Kontrollmechanismen einsetzen.

Ein Kind steht am Fenster © dpa
Auch Vernächlässigung ist eine Form der Misshandlung.

NDR.de: Was lässt sich Ihrer Meinung nach tun, damit es mittel- und langfristig weniger Fälle von Vernachlässigung und Misshandlung gibt?

Machlitt: Hilfreich wäre es, sehr viele niedrigschwellige Angebote bereitzuhalten. Wenn beispielsweise eine Familie deutlich erkennbar in einer Notlage ist, sollten die Hilfen sehr früh einsetzen, bereits vor oder mit der Geburt des Kindes - und zwar nicht, indem wir den Eltern von Anfang an das Gefühl vermitteln, wir müssten sie kontrollieren, weil sie ansonsten ihr Kind vernachlässigen. Wir informieren die Eltern darüber, welche Hilfen sie in Anspruch nehmen können, damit die Erziehung ihres Kindes gelingt. Denkbar ist beispielsweise, dass nach der Geburt jemand die Familie besucht und den Eltern alle Hilfsmaßnahmen und Angebote aufzeigt, die es für sie und ihr Kind gibt. Und zwar nicht mit der Haltung: "Wir schauen mal nach, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist." Sondern: "Wir möchten sie darüber informieren, welche Angebote es zur Unterstützung von Familien gibt."

NDR.de: Die Bundesregierung geht davon aus, dass in Deutschland rund fünf bis zehn Prozent aller Kinder im Alter von 0 bis sechs Jahren vernachlässigt werden. Hat der Kinderschutzbund ähnliche Zahlen?

Machlitt: Das Problem bei Zahlen zur Kindesvernachlässigung ist, woran wir sie überhaupt feststellen. Sie hat sehr viele Gesichter: Zum einen gibt es die körperliche und äußerliche Vernachlässigung, das fängt bei der Kleidung und Nahrung an. Darüber hinaus gibt es auch eine psychische Vernachlässigung. Da geht es um die emotionalen und geistigen Bedürfnisse des Kindes. Das Wesen der Vernachlässigung ist, dass Eltern die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht erkennen und nicht ausreichend dafür sorgen können, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Schließlich ist es sehr schwer, eine Grenze festzulegen, ab wann Vernachlässigung beginnt. Deshalb ist es problematisch, Zahlen zu nennen - zumal uns nur die Zahlen der Fälle zur Verfügung stehen, bei denen ein Kontakt mit der Jugendhilfe besteht. Aber wie hoch die Dunkelziffer ist, also die tatsächliche Anzahl der Kinder, die emotional und körperlich vernachlässigt werden, wage ich nicht zu schätzen. Ich glaube aber, dass der Anteil größer ist, als wir manchmal wahrhaben wollen.

NDR.de: Wie soll man sich verhalten, wenn man den Verdacht hat, dass ein Kind, etwa in der Nachbarschaft, vernachlässigt oder misshandelt wird? Was empfehlen Sie? 

Machlitt: In der Regel fällt uns an einem Kind ja etwas auf, wenn wir mit ihm in Kontakt sind. Unsere Empfehlung ist immer, diesen Kontakt zu nutzen - also mit dem Kind darüber zu sprechen, wie es ihm geht. Wenn sich daraus Anzeichen ergeben, dass es dem Kind nicht gut geht, dann spricht nichts dagegen, mit den Eltern Kontakt aufzunehmen. Ich kann dann mit den Eltern darüber sprechen, dass mir etwas an dem Kind auffällt und dass ich in Sorge bin. Wenn dieser Kontakt völlig misslingt, ist es auch eine Möglichkeit, sich an das Jugendamt zu wenden. Das zieht aber möglicherweise nach sich, dass sich die Eltern kontrolliert fühlen oder auch dicht machen.

Daher ist es ratsam, immer erst einmal den direkten Kontakt mit den Eltern zu suchen und herauszufinden: Sehen die Eltern das eigentlich auch so? Und wenn ja: Sind sie bereit, Hilfen anzunehmen? Dann kann man gemeinsam schauen, an wen sich die Eltern wenden können, beispielsweise an Erziehungsberatungsstellen oder Kinderschutzzentren. Hier können Eltern Unterstützung darin finden, die Bedürfnisse ihrer Kinder altersgemäß wahrzunehmen, damit sie angemessen darauf eingehen und ihren Kindern eine gute Entwicklung ermöglichen können.

Das Gespräch führte Irene Altenmüller.

Dieses Thema im Programm:

Hamburg Journal | 04.03.2008 | 19:00 Uhr

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