Streikende Arbeiter in Kiel lesen am 25. Oktober 1956, dem zweiten Streiktag, die neue vierseitige Streikzeitung. © picture-alliance / dpa

Deutschlands längster Streik: Der Aufstand der Mutigen

Stand: 02.05.2024 11:45 Uhr

Am 24. Oktober 1956 treten über 26.000 Metallarbeiter in Schleswig-Holstein in den Ausstand. Sie kämpfen für Rechte wie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Das neue ARD-Dokudrama "Die Mutigen - Deutschlands längster Streik" zeigt den Arbeitskampf.

von Stefanie Grossmann

 

Streikende Arbeiter in Kiel lesen am 25. Oktober 1956, dem zweiten Streiktag, die neue vierseitige Streikzeitung. © picture-alliance / dpa
AUDIO: Feature: Die Mutigen 56 (49 Min)

In den 1950er-Jahren boomt der Schiffbau in Norddeutschland, allein auf der Howaldt-Werft in Kiel schuften Tausende Metallarbeiter, auf allen Werften in Schleswig-Holstein ackern rund 25.000 Menschen. Die Arbeiter ächzen unter den Bedingungen: zehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Ihre Arbeitsplätze sind kalt und zugig. Funken fliegen von Schweißarbeiten hoch, der Lärm der Niethämmer vom Schlagen auf Metall ist ohrenbetäubend. Unfälle und Krankheiten sind keine Seltenheit. "Es war so eine Faustregel: jedes Schiff ein Toter", erläutert der ehemalige Flensburger Werftarbeiter Hans-Georg Leu das Arbeitsrisiko im Dokudrama "Die Mutigen - Deutschlands längster Streik". Und: Von den Gewinnen der Bosse profitieren die Metaller kaum.

Streikende Arbeiter in Kiel lesen am 25. Oktober 1956, dem zweiten Streiktag, die neue vierseitige Streikzeitung. © picture-alliance / dpa
AUDIO: Metallarbeiterstreik: 114 Tage Arbeiterkampf (2 Min)

Metallarbeiter fordern Lohnfortzahlung im Krankheitsfall

Metallarbeiter sind am 15.02.1957 in der größten Werft Schleswig-Holsteins, der Kieler Howaldtswerke, auf dem Weg zur Arbeit. © picture alliance / Walter Grosser Foto: Walter Grosser
In den 1950er-Jahren bekommen Arbeiter in den ersten drei Krankheitstagen keinen Lohn, danach nur wenig.

Den Arbeitern geht es nicht um eine Erhöhung des Stundenlohns, sie wünschen sich verbesserte Rahmenbedingungen und die Gleichstellung mit Angestellten: Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für die Dauer von sechs Wochen, mehr Urlaubsanspruch und die erstmalige Einführung von Urlaubsgeld.

"Mein Mann hat sich oft hingeschleppt. Wenn er Grippe hatte, ist er meistens wieder hingegangen und hat sich gar nicht krankgemeldet. Es gab ja denn kein Geld." So erinnert sich Lily Masuth, die Witwe eines Kieler Werftarbeiters im Dokudrama "Die Mutigen - Deutschlands längster Streik" (abrufbar jederzeit in der Mediathek) an die Zeit. Regisseur ist Ingo Helm.

Streikende Arbeiter in Kiel lesen am 25. Oktober 1956, dem zweiten Streiktag, die neue vierseitige Streikzeitung. © picture-alliance / dpa
AUDIO: Ingo Helm: "Mehr Bewusstsein dafür, dass Wohltaten erkämpft worden sind" (25 Min)

HDW-Betriebsrat Hein Wadle spricht sich für Streik aus

Der HDW-Betriebsrat Hein Wadle spricht zu den streikenden Werftarbeitern auf dem Rathausplatz. Hinter ihm (mit Helm) Helmut Schlüter, einer der Sprecher der Streikenden. © Stadtarchiv Kiel Foto: Friedrich Magnussen
Als Betriebsrat der Howaldtswerke setzt sich Hein Wadle unermüdlich für die Metallarbeiter ein.

Damals sind 70 Prozent der 65.000 Metaller im Land gewerkschaftlich organisiert. Ein großes Vorbild für die Arbeiterschaft ist Hein Wadle. Der Betriebsrat bei den Howaldtswerken und Vertrauensmann der IG Metall kämpfte im Widerstand gegen Hitler. Das verschafft ihm Respekt. Viele Arbeiter kommen mit ihren Sorgen zu ihm. Wenn er über die Dringlichkeit eines Streiks spricht, scharen sie sich um ihn und hängen an seinen Lippen: "Warum erhalten Angestellte im Krankheitsfall weiterhin ihren Lohn - und wir Arbeiter nicht? Weil wir wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden."

Das Gros der Streikenden bilden die Werftarbeiter

Zwei Menschen blicken auf die Reparaturabteilung der Howaldtswerke in Kiel (1956/57) © Stadtarchiv Kiel Foto: Friedrich Magnussen
Nichts geht mehr: Am 24. Oktober 1956 legen allen voran Werftarbeiter die Arbeit nieder und streiken.

Seine Überzeugungsarbeit fruchtet: Am 11. und 12. Oktober 1956 stimmen schließlich 88 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder für einen Streik. Am 24. Oktober 1956 ertönt in Schleswig-Holstein kein Hammerschlag mehr. Von Lauenburg bis Flensburg stehen die Kräne still. Mit Beginn der Frühschicht um 6 Uhr treten landesweit 26.288 Arbeiter in bedeutenden Betrieben der Metallindustrie in den Ausstand. Den Kern der Streikenden bilden die Werftarbeiter. Sehr zum Unmut von Adolf Westphal. Der Vorsitzende der Howaldtswerke heißt in der Belegschaft nur "King Adolph". Der gebürtige Kieler und gelernte Kaufmann hat die Werft nach dem Krieg wieder mitaufgebaut, die Auftragsbücher sind voll. Doch der Mann aus dem Stadtteil Gaarden hat aufgehört, seine Belegschaft zu grüßen. "Vollbeschäftigung, und diese Proleten beißen die Hand, die sie füttert", schimpft er hochnäsig über die Streikenden.

Howaldtswerke bauen Tanker für Aristoteles Onassis

Aristoteles Onassis wird von Adolf Westphal, dem Vorsitzenden der Howaldtswerke, empfangen. © Stadtarchiv Kiel
Auch der schwerreiche griechische Reeder Aristoteles Onassis (links) gehört zu den Kunden von Adolf Westphal und seiner Kieler Werft.

Schon um die Jahrhundertwende sind die Howaldtswerke eine bedeutende deutsche Schiffswerft, durch die Kriege erlebt sie ein Auf und Ab. 1953 arbeiteten bei Howaldt schon wieder 9.600 Beschäftigte an 26 Schiffen, darunter sind Tanker, Frachtschiffe und Walfangboote. Zu den Kunden gehört der griechische Tankerkönig Aristoteles Onassis. Weil die Werft sich mit dem Bau von Fischverarbeitungsanlagen bereits einen internationalen Namen gemacht hat, bekommt sie 1954 von der Sowjetunion einen Großauftrag, zehn Fischerei-Fabrikschiffe zu bauen. Der Auftragsbestand für die nächsten Jahre ist gesichert.

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Werft-Chef Adolf Westphal schüchtert Metaller massiv ein

Doch Westphal sieht durch den Streik sein Wirtschaftswunder in Gefahr. Der Unternehmer ist für alle Forderungen taub. Stattdessen droht er mit Kündigungen. Auch andere torpedieren den Ausstand, drohen mit Räumungsklagen, Mieterhöhungen… alles Versuche der Einschüchterung, um die Streikenden zu brechen. Denn der mächtige Westphal lässt seine Verbindungen spielen. Auch Zeitungen ziehen über die Arbeiter her - mit Schlagzeilen wie "Vor den Toren herrscht Terror". Man unterstellt ihnen eine grundsätzliche Verantwortungslosigkeit - "sonntags besoffen, montags blau", lautete das Klischee der Arbeitgeber, erzählt Udo Ehmke, ehemaliger Metallarbeiter aus Bargteheide im Dokudrama "Die Mutigen - Deutschlands längster Streik". Für die Arbeitnehmer geht es in diesem Arbeitskampf auch um Würde und Respekt.

Streiklokale sind Zentrum des Widerstands

Vor einem Lokal stehen streikende Metallarbeiter (1956/57). © Stadtarchiv Kiel Foto: Friedrich Magnussen
Treffpunkt Streiklokal: Hier bekommen die Lohnempfänger als Ausgleich Streikgeld ausbezahlt, das sie und ihre Familien ernährt.

Statt an Schiffen zu schuften, stehen die Arbeiter jetzt als Streikposten vor den Toren der Werft, bei eisigen Temperaturen und ohne Lohn. Das Zentrum des Ausstands sind die Streiklokale. Hier treffen sich die Arbeiter auf ein Bier, sie bekommen aber auch ihre Schichten als Streikposten zugeteilt. Außerdem erhalten sie dort als Unterstützung Streikgeld: Wöchentlich gibt es bis zu 60 Mark und ab November außerdem 45 Mark Mietbeihilfe für Verheiratete. Durch diese Maßnahmen kommen Streikende fast auf ihren Nettolohn von rund 350 Mark. Ledige können im Kieler Gewerkschaftshaus ein billiges Mittagessen erhalten. Für zusätzliche Entbehrungen gibt es als Ausgleich Kino, Theater, Schachturniere, Kaffeekränzchen und sogar Großveranstaltungen in der Kieler Ostseehalle. "Alles, was die Sorgen vertreibt", erläutert Julius Bredenbeck im Dokudrama "Die Mutigen - Deutschlands längster Streik". Er initiiert damals den Metallarbeiter-Streik mit.

"Die Streik-Nachrichten waren der Zusammenhalt"

Für den Zusammenhalt unter den Arbeitern sorgen auch die Streik-Nachrichten der IG-Metall-Bezirksleitung, die bei der "Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung" gedruckt werden.

"Diese Streik-Nachrichten waren grundsätzlich der Zusammenhalt, die Klammer und das Informationsblatt für die Streikenden. Das wurde von jedem gelesen, und es war so gestaltet mit Karikaturen mit Preisrätseln, dass das von den Kollegen geradezu erwartet wurde." Hans-Ulrich Stangen, ehemaliger Kieler Werftarbeiter im Dokudrama "Die Mutigen - Deutschlands längster Streik"

Selbst dänische Werften erklären sich solidarisch

Die Solidarität unter den Streikenden und ihren Familien ist groß. Jeder hilft jedem, mit Essen oder Unterkünften. Während ihre Männer im Ausstand sind, halten die Frauen trotz vieler Entbehrungen die Familien zusammen, sorgen für Essen auf dem Tisch und verhindern, dass die Männer nicht das knappe Geld versaufen. Im Verlauf des Streiks zeigen immer mehr Betriebe im In- und Ausland Solidarität mit den Streikenden. "Euer Kampf ist unser Kampf", bekunden die Lloydwerke in Bremen. Auch die dänischen Werftarbeiter erklären sich solidarisch. Pakete anderer Gewerkschaften erreichen die Streikenden, darüber hinaus überweisen sie Geld als Streikhilfe.

Der Streik hatte eine hohe Beachtung gefunden, nicht nur bei der IG Metall. Da war am Anfang vielleicht Skepsis: Oh, hoffentlich klappt das jetzt hier 1956 in dem kleinen Schleswig-Holstein. Die haben zwar Werften, aber stehen die das durch? Schaffen die das? Und je länger das dauert, desto mehr Hoffnung setzten die Gewerkschafter da rein, zu sagen: steht das durch. Udo Ehmke, ehemaliger Metallarbeiter aus Bargteheide im Dokudrama "Die Mutigen - Deutschlands längster Streik"

Keine Seite will im Arbeitskampf nachgeben

Gewerkschaftmitglieder zählen nach einer Urabstimmung über ein Streikende Stimmen aus (1956/57). © Stadtarchiv Kiel Foto: Friedrich Magnussen
Immer wieder finden Urabstimmungen über ein Ende des Streiks statt. Ohne Erfolg - die Arbeiterschaft bleibt hart.

Unterdessen finden immer wieder Gespräche über ein Ende des Arbeitskampfes statt. Sechs Schlichtungsversuche - unternommen vom damaligen Ministerpräsidenten Kai-Uwe von Hassel - scheitern. Dann vermittelt schließlich Bundeskanzler Konrad Adenauer, er ringt den Arbeitgebern zumindest Teilzugeständnisse für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ab. Die Gewerkschaft empfiehlt, den Kompromiss anzunehmen. In einer dritten Urabstimmung lehnt die Mehrzahl der Arbeiter das Angebot als unzureichend ab. Der Streik geht damit weiter. Im Januar 1957 bleiben über 34.000 Metaller in 38 Betrieben der Arbeit fern.

Arbeitskampf der Metaller stellt Weichen für Gleichstellung

Am 9. Februar 1957 nehmen die Metallarbeiter schließlich einen verbesserten Kompromiss an. Am Freitag, 15. Februar, melden die "Kieler Nachrichten": "Seit heute Morgen wird in den bestreikten Betrieben der schleswig-holsteinischen Metallindustrie wieder gearbeitet." Im Juli 1957 verabschiedet der Bundestag ein Gesetz, das die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall festlegt. Der Streik entscheidet auch Lebenswege, wie den des damals 17-jährigen Björn Engholm - in die Politik. Als Schüler bedient er bei der IG Metall die Lautsprecheranlagen während des Streiks und verdient sich ein bisschen Taschengeld: "Ich konnte in einer Stunde mit Glück eine Mark bis 1,50 machen. Und das war mehr, als ein Arbeiter im Krankheitsfall für die Stunde erhielt. Da habe ich begriffen, was für ein Kummerlohn das für diese harte Arbeit damals bedeutet haben muss", erzählt er im Dokudrama "Die Mutigen - Deutschlands längster Streik. Ein Erlebnis, das prägt.

Der Ausstand der Metallarbeiter gilt bis heute als härtester Branchenstreik gegen Arbeitergeber und Politik. Er öffnet die Tür zur Gleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten. Seit 1970 sind beide Berufsgruppen gleichgestellt - mehr als ein Jahrzehnt nach dem längsten Arbeitskampf in Deutschlands Geschichte.

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Das Erste | 01.05.2024 | 21:45 Uhr

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