Sendedatum: 09.11.1996 19:00 Uhr

Im Bett verhaftet

Es geschieht am frühen Morgen des 3. Februar 1974. Plötzlich stehen vier Polizisten vor Ilse Edlers Haustür und fragen nach ihrem Sohn. Der liege noch im Bett, sagt sie, doch das interessiert die Polizisten nicht. Sie umstellen das Haus und holen Erich Edler aus seinem Zimmer. "Wir haben gehofft, Erich kommt abends wieder, doch er kam nicht zurück", sagt seine Mutter. Der 18-Jährige wird nach Boizenburg gebracht und im Rathaus in einer kargen Zelle eingeschlossen. Dort sitzt er von morgens bis abends. Warum? Die Polizisten geben keine Antwort. Erst bei der Gerichtsverhandlung erfährt er den "Grund" für seine Verhaftung.

"Einfach verschwinden, einfach frei sein"

DDR - innerdeutsche Grenze - Thüringen © picture-alliance/ ZB Foto: Peter Leske
Zweifach gefangen: Das Leben im DDR-Sperrgebiet war für die Betroffenen eine Belastung.

Familie Edler wohnt in dem kleinen Dorf Lüttow im Kreis Hagenow, direkt im DDR-Sperrgebiet. Natürlich reden die Jugendlichen darüber, wie das wäre, einfach abzuhauen. "Wir wollten fast alle weg aus dem Sperrgebiet - entweder weg ins Hinterland oder weg in den Westen, einfach verschwinden, einfach frei sein", erinnert sich Erich Edler. Rausfahren aus dem Sperrgebiet, einmal diesen Grenzzaun nicht sehen. Erich Edler schüttelt den Kopf: "Es war wirklich so, als wäre die Welt für uns hier wie mit Brettern vernagelt gewesen - und das war sie ja auch."

Bespitzelung durch IM "Günther"

Erich Edler sagt, was er denkt - und er denkt ziemlich laut. Schnell wird die Kreisdienststelle Hagenow des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auf ihn aufmerksam. Sie setzt zwei Spitzel auf ihn an: den bisher noch nicht zweifelsfrei identifizierten Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) "Schieni" und IM "Günther". Letzterer berichtet eifrig: "Im Sommer 1972 äußerte Erich erstmals, daß er die DDR ungesetzlich verlassen will. Dieses war in Valluhn, nach dem wir aus der dortigen Gaststätte kamen. [...] Er forderte uns damals beide auf, mit ihm abzuhauen. Wir lehnten beide diesen Vorschlag ab."

Der zuständige Leutnant Kasimir, Sachbearbeiter in der Kreisdienststelle Hagenow des MfS, gelangt an die Kopie eines Briefes an Erich Edler, geschrieben im November 1973 von dessen Kumpel Armin N., der in den Westen geflüchtet ist. Detailliert schildert Armin N. seinen Fluchtweg und ermuntert Erich, es ihm nachzutun. Auch IM "Günther" erfährt von diesem Brief und informiert im Januar 1974 die Staatssicherheit über ein Treffen mit Erich Edler: "Erich erzählte mir weiter, daß sein Freund N. sich bei Nürnberg aufhält und die Absicht hat, in den Norden der BRD zu ziehen. Erich erzählte in diesem Zusammenhang, daß er auf diesen Moment wartet und dann ebenfalls in die BRD gehen will, um so mit seinem Freund N. zusammen zu sein." Noch zweimal berichtet IM "Günther" seinem Führungsoffizier - das reicht der MfS-Kreisdienststelle Hagenow für eine Verhaftung aus.

Verhandlung am Kreisgericht Hagenow

Wochen nach der Verhaftung findet die Verhandlung am Kreisgericht in Hagenow statt. "Verräter!", schreit die Staatsanwältin den Angeklagten an, und: "Sie können doch zugeben, dass Sie unseren Staat verlassen wollten!" Schließlich wird das Urteil verkündet: "Wegen Vorbereitung und Versuch des ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall" wird Erich Edler zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. "Wenn ich wenigstens einen Fluchtversuch gemacht hätte, und ich wäre dann an der Grenze gestellt, verhaftet und verurteilt worden - na gut, so waren die Gesetze damals, das hätte ich akzeptieren müssen", sagt Erich Edler. Doch grundlos verurteilt zu werden - das ist bitter.

"Gefühle zeigen? Dann bist du erledigt"

Erich Edler wird in die Strafvollzugseinrichtung Raßnitz im Süden der DDR eingeliefert. Die politischen Häftlinge haben keinen leichten Stand unter den Kriminellen. Die Atmosphäre ist rau. "Gefühle zeigen? Weinen? Das gibt es nicht, dann bist du erledigt", sagt Erich Edler. Tag für Tag müssen die Häftlinge im Gleisbau arbeiten, müssen Schlamm schaufeln und Schienen setzen. Aufgrund der ständigen Mangelernährung können Arbeitsverletzungen kaum verheilen. "Diese Erinnerung an den Strafvollzug, die lässt sich nicht auslöschen", sagt Erich Edler. "Da hat man irgendwie einen Knacks bekommen. Und man wird auch für das Leben härter. Das legt man wahrscheinlich nicht ab, die wird man nie wieder los, diese Härte."

"Zehn Jahre meines Lebens geklaut"

Im Mai 1975 wird Erich Edler vorzeitig aus der Haft entlassen, "da zu erkennen ist, daß der Zweck der Freiheitsstrafe erreicht wurde", wie das Kreisgericht Hagenow mitteilt. Doch zurück in die Heimat darf er nicht. Im Gerichtsurteil heißt es: "Dem Angeklagten wird der Aufenthalt in sämtlichen Grenzkreisen der DDR entlang der Staatsgrenze West einschließlich der Hauptstadt der DDR, Berlin, untersagt." Stattdessen wird Erich Edler für die Dauer der Bewährungszeit zwangsweise eine Arbeit in Schwerin zugewiesen. Die neuen Arbeitskollegen lassen ihn spüren, was sie von dem Ex-Häftling halten. Auch sonst trifft er häufig auf Ablehnung: "Wir Politischen waren das Letzte, was im Gefängnis rumlief. Und wir wurden auch danach mehr oder weniger als der letzte Dreck behandelt." Ständig wird er beobachtet, ständig fordert das MfS Beurteilungen von seinem Arbeitgeber an. "Ich konnte praktisch zehn Jahre meines Lebens nie richtig frei sein. Sie haben mir zehn Jahre meines Lebens geklaut", sagt Erich Edler. Nach Ablauf der Bewährungszeit kündigt er seine Stelle und findet in Schwerin einen angenehmeren Betrieb. In den Achtzigerjahren normalisiert sich sein Leben. Er heiratet und darf zum ersten Mal zu Besuch zurück in die Heimat.

Der Spitzel war sein bester Freund

Regale mit Akten des einstigen Ministeriums für Staatssicherheit. © Gero Breloer Foto: Gero Breloer
Nach der Wende erhält Erich Edler Einsicht in seine Stasi-Akte.

Immer wieder denkt Erich Edler darüber nach, wer ihn damals verraten hat - bis die Wende kommt. Anfang der Neunzigerjahre stellt er einen Antrag auf Akteneinsicht. Er erhält seine Akte, stößt auf die Decknamen IM "Schieni" und IM "Günther", beantragt die Ermittlung der Klarnamen und erfährt im Februar 1995: Hinter IM "Günther" versteckt sich sein ehemaliger bester Freund. Erich Edler ist geschockt. "Ich wäre zu dem Zeitpunkt nie auf die Idee gekommen, dass er das gewesen ist", sagt er. Die Akte des IM "Günther" ist knapp 300 Seiten stark, und es ist alles da: die Verpflichtungserklärung vom 13. Juli 1972, ein Bericht über seine Motive zur Zusammenarbeit mit dem MfS, die Beschreibung seines Aufgabengebietes: "Einschätzung über Jugendliche und deren Verhaltensweisen und Erarbeitung von Informationen zur Einschätzung des Stimmungsbildes". Erich Edler liest auch die Quittung, die "Günther" am 5. Februar, zwei Tage nach Erich Edlers Verhaftung, ausgestellt hat: "Am heutigen Tage erhielt ich von einem Mitarbeiter des MfS für die geleistete Arbeit, zur Klärung eines vorbereiteten ungesetzlichen Grenzübertritts den Betrag von 200 Mark."

Wie denkt IM "Günther" über den Verrat?

Anders als viele andere ehemalige Spitzel ist "Günther", der noch immer in der Heimat lebt, zu einem Interview bereit - anonym, in einem Wald im ehemaligen Sperrgebiet. Dort erzählt er stockend und mit vielen Pausen, wie damals das Ministerium für Staatssicherheit Kontakt zu ihm gesucht hat: "Die kamen schnell zur Sache und haben mich sehr unter Druck gesetzt". Er habe dann blindlings irgendetwas unterschrieben. Und die Sache mit Erich Edler? "Diese Person ...", er meint tatsächlich Erich Edler, "diese Person hat viel geredet, von sich erzählt und gesagt, dass er abhauen will in den Westen."

Dass "diese Person" aber wirklich abhauen wollte, hat er nicht geglaubt: "Wir waren doch jung, das war mehr so dahingesagt. Aber die anderen wussten ja schon alles. Ich wurde nur als Mittel zum Zweck benutzt, vielleicht weil ich immer mit ihm zusammen war." Ob er Schuldgefühle habe? "Schuldgefühle? Es tut mir sehr leid in dieser Sache, ja - aber Schuldgefühle? Ein bisschen vielleicht." Und dann sagt er: "Ich würde mit ihm reden. Und wenn er meine Entschuldigung annimmt ...", mitten im Satz bricht er ab. Doch Erich Edler lehnt ein Treffen ab. Lange genug habe "Günther" die Möglichkeit gehabt, sich ihm zu offenbaren. Jetzt sei es dafür zu spät. Bis heute hat es zwischen Erich Edler und seinem IM "Günther" kein Gespräch gegeben.

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Im Bett verhaftet - Originalversion

Die ungekürzte Fassung des Textes aus der Reihe "Erinnerungen für die Zukunft" von NDR 1 Radio MV. Download (215 KB)

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | 09.11.1996 | 19:00 Uhr

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