Wie die Stolpersteine an NS-Opfer erinnern
Am 9. November 1938 riefen die Nationalsozialisten dazu auf, jüdische Geschäfte und Synagogen zu zerstören. Schon in der folgenden Nacht gehen auch in Norddeutschland zahlreiche Synagogen in Flammen auf, jüdische Läden werden ausgeraubt und demoliert, Juden verschleppt oder ermordet. Zum Jahrestag dieser Reichspogromnacht treffen sich in etlichen Städten im Norden Menschen, um die sogenannten Stolpersteine zu putzen.

Es sind bescheidene Hingucker: die quadratischen, knapp zehn mal zehn Zentimeter großen Steine aus Messing - eingelassen in den Gehweg.
"Hier wohnte
ESTHER GLANZ
geb. Buchen
JG. 1898
DEPORTIERT 1942
ERMORDET IN
MAJDANEK"
Diese Daten sind in eine Messingplatte eingraviert, die in der Adelheidstraße in Kiel liegt - direkt daneben ein Stolperstein für ihren Mann Markus und ihren Sohn Joachim. Alle drei wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Die Adelheidstraße war ihr letzter frei gewählter Wohnort. Um die Schrift lesen zu können, muss man innehalten und sich bücken.
"Mit dem Kopf und dem Herzen stolpern"
Erdacht hat die Stolpersteine der Kölner Künstler Gunter Demnig. Er wollte den Millionen Menschen, die von den Nationalsozialisten zu Nummern degradiert und ermordet wurden, ihren Namen und damit die Erinnerung an sie zurückgeben. "Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist", sagt Gunter Demnig.
Trotz des Namens Stolpersteine geht es dem 1947 geborenen Demnig nicht um ein tatsächliches Stolpern. In einem Dokumentarfilm des TV-Senders Arte sagte der Künstler: "Man stolpert nicht und fällt hin, man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen."
Stolpersteine auch in vielen Nachbarländern
Seit den 1990er-Jahren verlegt Gunter Demnig die kleinen Betonsteine mit Messingplatte, manchmal auch gegen Widerstand, anfangs ohne Genehmigung. Anlass für den ersten Stein war der 50. Jahrestag des Befehls von Heinrich Himmler zur Deportation der "Zigeuner". Den legte er 1992 vor das Kölner Rathaus.
Später entwickelte sich daraus das Projekt Stolpersteine, das aller Opfer gleichermaßen gedenkt: Juden, politisch Verfolgten, Roma und Sinti, Homosexuellen, Zeugen Jehovas und der Euthanasie-Opfer. Inzwischen finden sich die Steine in fast 1.200 Städten und Gemeinden in Deutschland - insgesamt 74.000 Gedenksteine sind es in Deutschland und in 25 weiteren Ländern, unter anderem in Österreich, Belgien, Frankreich, Polen, den Niederlanden und der Ukraine. Die Stolpersteine gelten inzwischen als das größte dezentrale Mahnmal der Welt.
Mehr als 5.000 Gedenksteine allein in Hamburg

Auch in Norddeutschland sind viele Stolpersteine verlegt worden: In Hamburg wurde der erste Gedenkstein im Jahr 2002 in einen Gehweg eingelassen, im November 2019 liegt die Zahl bei knapp 5.700. Nur in Berlin gibt es mit fast 8.000 Stück noch mehr Stolpersteine. In Hamburg sollen wie jedes Jahr im April und im Juni 2020 weitere Gedenksteine verlegt werden. Mehr über die in Hamburg verlegten Stolpersteine und die Biografie der Opfer kann man auf der Internetseite www.stolpersteine-hamburg.de erfahren.
Aber auch in vielen weiteren norddeutschen Städten sind Stolpersteine zu entdecken. Neben den großen Namen wie Hannover, Schwerin und Kiel sind auch kleinere Städte darunter wie Stadthagen, Rehburg, Kellinghusen, Rendsburg oder Pasewalk.
Viele Privatleute unterstützen das Projekt
Häufig sind es kleinere Initiativen, die sich um die Stolpersteine bemühen. In Göttingen zum Beispiel waren es die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und die Bonifatius-Schule, die dafür sorgten, dass im Mai 2012 die ersten Stolpersteine eingelassen wurden. Zuvor hatte die Haus- und Eigentümergemeinschaft in der Bühlstraße einmütig beschlossen, so an Hedwig Steinberg zu erinnern. Die frühere Besitzerin des Hauses war 1942 deportiert worden. Ihre Spur verliert sich in Minsk.
Widerspruch aus jüdischen Gemeinden
Obwohl ständig neue Stolpersteine hinzukommen, ist das Projekt nicht unumstritten. Die wohl stärkste Wirkung entfaltete der Widerspruch von Charlotte Knobloch, ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland. Die Verlegung der Pflastersteine sei eine Missachtung der Opfer, sagte Knobloch: "Damit wird das Andenken von Menschen, die Verfolgung und Entwürdigung erleben mussten, bevor sie auf schreckliche Weise ermordet wurden, nochmals entwürdigt und sprichwörtlich mit Füßen getreten." Auch die Jüdische Gemeinde in Göttingen hatte das Projekt im Jahr 2015 kritisiert.
Kritiker spricht von "Millionen-Geschäft"
Und der Sprecher der Jüdischen Gemeinde in Hamburg, Daniel Killy, beklagte im Jahr 2014, dass die Stolpersteine ein Millionen-Geschäft seien. Gunter Demnig habe sich damit einen "politisch korrekt ummantelten Businessplan" geschaffen: "Millionen-Umsätze mit den Opfern des millionenfachen Mordens", sagte Killy. Verteidigt wurde Demnig daraufhin von der Aktivistin Lea Rosh und dem Hamburger Peter Hesse, der sich seit Jahren für die Stolpersteine einsetzt. "Demnig lebt bescheiden in einem kleinen Kölner Atelier, fährt mit einem alten Transporter durch Europa und verrichtet schwere körperliche Arbeit", berichtete Hess. Die Kritik von Killy könne er nicht verstehen. "Ich frage ihn: Wovon soll der Künstler denn leben?"
Der Vorstand der Jüdischen Gemeinde in Hamburg distanzierte sich von dem verbalen Angriff Killys. Die Gemeinde unterstütze die Aktion mit den Stolpersteinen "seit Jahr und Tag".
Zwischen Ehrung und Widerspruch
Einige Städte wie München machten sich die Kritik von einzelnen jüdischen Gemeinden zu Eigen und weigerten sich, Stolpersteine zu genehmigen. Ganz anders die Reaktion beispielsweise der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, die den Künstler mit einer Medaille ehrte. Gunter Demnig habe sich mit seiner Aktion um die jüdische Gemeinschaft verdient gemacht, hieß es zur Begründung.
Manchmal sind es auch Hausbesitzer, die keine Stolpersteine vor ihrer Tür wollen, weil sie eine Wertminderung fürchten oder dass zwischen ihnen und den Morden ein Zusammenhang hergestellt wird. Manche lehnen das Projekt grundsätzlich ab. Andere befürchten Übergriffe von Neonazis, so wie im November 2012 in Greifswald geschehen. Unbekannte hatten damals alle elf im Stadtgebiet verlegten Stolpersteine aus dem Straßenpflaster gebrochen.
120 Euro pro Stolperstein - Gemeinsame Putzaktionen
Das Geld für die Gedenksteine kommt durch Spenden zusammen. Bei der Recherche von Name, Geburtsjahr, Deportationsjahr und Ort sowie Angaben zum Schicksal helfen meist Geschichtsvereine, Archive, die Gedenkstätte Yad Vashem in Israel. Wer für einen solchen Stein die Patenschaft übernehmen will (pro Stein 120 Euro), bekommt die nötigen Informationen auf der Website stolpersteine.com.
Wer das Projekt ohne Geld unterstützen möchte, kann sich beispielsweise daran beteiligen, die Stolpersteine zu reinigen und zu pflegen. So finden beispielsweise im Frühjahr oder auch an den Jahrestagen der Pogromnacht in vielen Städten gemeinsame Putzaktionen statt.
