140 Tage als Geisel: "Ich will es nicht missen"
Am 17. Juli vor 20 Jahren endet für Renate Wallert aus Göttingen eine wochenlange Geiselhaft im Dschungel der philippinischen Insel Jolo. Während ihr Sohn Marc und ihr Mann Werner mit weiteren Touristen zunächst für weitere Wochen in der Gewalt der radikal-islamistischen Terrororganisation Abu Sayyaf bleiben, kommt sie nun als erste Geisel frei. Der NDR Niedersachsen hat sich im April 2020 - zum Jahrestag der Entführung - mit Marc Wallert zu einem Gespräch über die Zeit in Gefangenschaft und sein Leben seitdem getroffen.

Marc Wallert sitzt auf einer Bank im Wald. Er öffnet die Tube Moskitoschutzcreme - eines seiner wenigen "Entführungs-Souvenirs" - und nimmt dann einen langen Atemzug. Damals war es der typische Duft, den er mit dem Dschungel verband. Und heute? "Riecht nicht mehr, nicht mehr wie vor 20 Jahren", sagt er. Der Duft ist verflogen, die Erinnerungen an die dramatische Zeit in Geiselhaft aber noch nicht. Der 46-Jährige wirkt gefasst, kann mittlerweile unaufgeregt über die Entführung sprechen, weil das Geschehene bei ihm keine traumatischen Schäden hinterlassen habe, erzählt er. Die Geiselnahme habe ihn aber verändert und stärker gemacht. "Ich wünsche das wirklich niemandem, ich möchte es aber in meinem Leben nicht mehr missen", sagt Wallert NDR Niedersachsen.
Radikal-islamische Terroristen verschleppen 21 Geiseln
Ostersonntag im Jahr 2000. Tauchurlauber Marc Wallert genießt mit einem Cocktail in der Hand den malerischen Sonnenuntergang auf der Hotel-Terrasse auf der malaysischen Insel Sipadan. Plötzlich hört er Schreie und blickt kurze Zeit später in das Mündungsrohr einer Bazooka. Zuerst denkt er, er werde ausgeraubt. "Was wirklich passiert und worauf das ganze hinauslief, das hat eine Weile gedauert zu realisieren", so Wallert. Es folgt eine 20-stündige Boots-Odyssee über das offene Meer, dann ein 10-stündiger Fußmarsch durch den Dschungel. Die radikal-islamistischen Terroristen verschleppen 21 Geiseln auf philippinischen Boden.
Die Ungewissheit zermürbt die Entführten
Völlig erschöpft kommen Marc Wallert und die anderen Geiseln im ersten Lager an. Was sie jetzt noch nicht wissen: Sechsmal werden sie das Camp wechseln - meist ohne Vorwarnung. Immer wieder flüchten die Rebellen samt Geiseln vor dem philippinischen Militär. Es vergehen Tage, Wochen, Monate. Immer wieder sprechen die Entführer davon, dass die Geiseln bald freikommen. Die Ungewissheit zermürbt die Entführten. "Mir wäre es lieber gewesen, zu wissen, dass ich nach zwei Jahren garantiert wieder freigelassen werde, als zu hoffen, dass es in zwei Tagen zu einer Freilassung kommt", berichtet Marc Wallert rückblickend.
Regelmäßige Besuche von Kamerateams
Die Geiseln hausen unter miserablen hygienischen Bedingungen, mit giftigen Tieren als Nachbarn und ohne einen Hauch von Privatsphäre - immer umgeben von bewaffneten Rebellen. Das Skurrile dabei: Die Entführten werden fast täglich von Kamerateams besucht. Während die Rebellen bereitwillig mit ihren Gewehren für die Journalisten posieren, schicken die Geiseln emotionale Hilferufe nach draußen. Die Bilder gehen um die ganze Welt. Marc Wallert glaubt, dass die öffentliche Aufmerksamkeit sicher nützlich gewesen sei für die Verhandlungen, andererseits habe er sich durch die ständige Präsenz der Kameras wie im Zoo gefühlt, erzählt er heute. Je länger die Entführung dauert, desto mehr Privilegien bekommen die Geisel. Journalisten und Boten bringen immer wieder Pakete in den Dschungel. Mal sind Stifte und Zettel drin, mal Medikamente und kleine Snacks. Fast alle Entführten schreiben Tagebuch, auch Marc Wallert. Es habe ihm geholfen, die Situation zu verstehen und zu akzeptieren, sagt er. An manchen Tagen schreibt er 40 Seiten in seinen Block.
Nach fast drei Monaten kommt die erste Geisel frei
Marc Wallert holt zwei originale Reissäcke raus, rollt sie aus und zeigt, wie man sie zu Rucksäcken umfunktionieren kann. "Sie waren Gold wert", sagt er, "gerade bei langen Fußmärschen". Dadurch hätten die Geiseln die Hände für andere Sachen frei. Nur durch die stabilen Reissäcke hätten seine Tagebücher überhaupt unbeschadet aus dem Dschungel kommen können. Seine Sandaletten von damals, eine ungeöffnete Sardinenbüchse und ein Rasierbecher aus Ton komplettieren seine Dschungelsammlung. "Den Tonbecher hat mir jemand aus Deutschland geschickt, damit ich mir Rasiercreme im Dschungel anrühren kann. Der praktische Nutzen war Null, der psychologische Nutzen war enorm", sagt Wallert. Es sind gerade solche Gesten, die dem Göttinger und den anderen Gefangenen immer wieder Kraft geben. Es dauert fast drei Monate, bis die erste Geisel freigelassen wird. Während die Eltern von Marc Wallert bereits in Freiheit sind, muss der Sohn weiter bangen. Nach 140 Tagen Geiselhaft kommt er am 9. September schließlich als eine der letzten Geiseln frei.
Fünf Jahre später: Burnout
Marc Wallert kehrt schließlich selbstbewusst in sein "zweites Leben" zurück, wie er heute sagt. Doch fünf Jahre später fällt er in ein berufliches Tief - Diagnose: Burnout. Auch diese Krise besteht er. Mittlerweile arbeitet der 46-Jährige als Trainer und Berater. Er schult Menschen und Unternehmen in Krisen und sieht gerade jetzt zu Corona-Zeiten viele Parallelen zu seiner Entführung. "Es ist eine unsichere Situation, es ist potenziell lebensgefährlich und vor allem die Menschen wissen auch heute nicht, wie lange das ganze dauern wird", sagt er. Sein kürzlich erschienenes Buch "Stark aus Krisen" liest sich daher auch nicht wie eine Chronologie der Entführung, sondern vielmehr wie eine Anleitung für jedermann, persönliche und berufliche Krisen zu bewältigen. Marc Wallert möchte heute nicht mehr als Opfer wahrgenommen werden, sondern als Überlebender. Und so verstaut er seine persönliche Dschungel-Sammlung auch schnell wieder in seinem Beutel. Und nur, wenn er Menschen damit Mut machen kann, wird er sie wieder herausholen.
