Stand: 14.08.2019 07:21 Uhr

Flucht aus Vietnam: Gerettet von der "Cap Anamur"

Vor 40 Jahren begannen Retter auf der "Cap Anamur" ihre Hilfsaktion im südchinesischen Meer. Auf dem umgebauten Frachter aus Hamburg fanden Menschen Zuflucht, die mit Booten aus dem kommunistischen Vietnam flohen. Eine Überlebende erinnert sich.

Alicia Le-Sattler floh als Kind über das südchinesische Meer. Die "Cap Anamur" rettet sie und ihre Familie. © privat
Alicia Le-Sattler floh als Kind über das südchinesische Meer. Die "Cap Anamur" rettet sie und ihre Familie.

Es beginnt mit einem kleinen Schauspiel: Über Monate hinweg streiten sich die Eltern von Alicia Le-Sattler - und immer, wenn die Mutter für ein paar Tage auszieht, nimmt sie ein Möbelstück mit. Die Wohnung leert sich, aber Mama bleibt. Irgendwann erzählen ihr die Eltern von einem Boot. "Das Geld dafür haben wir verdient, weil wir unser Mobiliar auf dem Schwarzmarkt verkauften." Sobald es seetüchtig sei, würden sie damit aus Vietnam flüchten. Der ganze Streit - alles nur inszeniert, damit die Nachbarn von den Fluchtplänen nichts mitbekommen.

Die Rettungsmission der "Cap Anamur"

Nach dem Ende des Vietnamkriegs (1955 - 1975) gehörte Vietnam zu den ärmsten Ländern der Welt, zudem wurden zahlreiche Vietnamesen vom siegreichen kommunistischen Regime in Arbeitslager verschleppt. Hunderttausende Menschen fliehen - viele von ihnen über das Chinesische Meer. Mehr als 200.000 Vietnamesen - Boatpeople genannt - ertrinken.Der Journalist Rupert Neudeck möchte etwas gegen das Sterben im Meer unternehmen und gründet die Hilfsorganisation Cap Anamur - am 13. August 1979 nimmt ein gleichnamiges Schiff die Rettungsaktion im südchinesischen Meer auf. Bis 1987 werden im Rahmen der Hilfsaktion etwa 11.000 Menschen aus Seenot gerettet.

Angst vor dem Arbeitslager

Es ist klar, dass der Vater sonst bald abgeholt werden würde: Im Vietnamkrieg kämpfte er als Offizier auf der Seite Südvietnams - dem Verlierer des Krieges. Für Menschen wie ihn haben die kommunistischen Machthaber Arbeitslager errichtet. Und für Alicia Le-Sattler, die damals acht ist und noch Alicia Thanh Truc Le ist, gibt es dort keine Zukunft. "Leute wie euch unterrichten wir nicht länger als bis zur vierten Klasse", sagt man ihr oft - so erzählt sie es heute.

Dass ihr Leben und das des Vaters anders verläuft, liegt daran, dass Alicia Thanh Truc Le, ihre Familie und weitere Verwandte eines frühen Morgens auf ihr Boot steigen - und ein paar Tage später auf ein sehr viel größeres Schiff: die "Cap Anamur", die geflüchtete Vietnamesen aus dem südchinesischen Meer rettet - und dann nach Deutschland bringt. Heute vor 40 Jahren beginnt der Hamburger Frachter, der zum Hospitalschiff umgebaut worden war, mit seiner ersten Rettungsmission. Dass das Schiff damals unterwegs ist, ist wahrscheinlich der Grund, weshalb Alicia Le-Sattler heute noch lebt.

Zucker und Zitronen - und Schlafmittel

Ihre Reise beginnt mit Zucker und Zitronen. Die Mutter hat beides miteinander vermischt - und gibt den leckeren Saft jedem Kind an Bord zu trinken. Bald schon wirkt das starke Schlafmittel, das ebenfalls darin enthalten ist. Als Alicia aufwacht, sieht sie einen blauen Himmel, blaues Wasser - und kein Schiff der Küstenwache.

Kindheitsfoto von Alicia Thanh Truc Le, die als 8-Jährige von der "Cap Anamur" gerettet wurde © privat
Alicia Thanh Truc Le im Alter von zwei Jahren.

Schiffe aber irgendwann schon - nämlich die von Fischern. Das mag harmlos klingen, aber in der Welt, die Alicia Le-Sattler schildert, sind vietnamesische Fischerboote manchmal kaum weniger gefährlich als die der Küstenwache. So auch diesmal, als sie mit ihren Booten die Flüchtenden umzingeln. "Die Fischer wussten, dass es auf solchen Booten Wertsachen gibt", sagt sie heute dazu. Der Vater hat eine Pistole dabei, so erzählt es Alice Le-Sattler, und die zieht er nun. Einen Fischer sucht er sich raus und zielt nur auf diesen. "Wenn ihr nicht verschwindet, erschieße ich ihn", ruft er. Sie verziehen sich, also geht es weiter.

"Mein Vater war für mich ein Held"

Wenn man Alicia Le-Sattler fragt, ob sie damals Angst hatte, dann zuckt sie nur mit den Schultern. "Ich war acht. Mein Vater war dabei, er war für mich ein Held."

Man ahnt, wie lange diese Zeit her sein muss, wenn man der Alicia Le-Sattler von heute zuhört, einer Frau, die schnell denkt und redet - und zwar im Ruhrgebiet-Slang. In ihrem Arbeitszimmer in Bochum, zwischen all den Akten, ist das südchinesische Meer ganz weit weg.

Schwimmen kann keiner der Flüchtlinge

Was Alicia damals nicht weiß, ist, dass sie eigentlich kein Ziel haben. GPS, Internet, Google Maps - all das gibt es nicht. Der Vater hat sich Bücher über Navigation besorgt. Er hat gehört, dass es vor Thailand oft Piraten gebe. Dort will er nicht hin. An der vietnamesischen Küste bleiben können sie auch nicht, also entscheiden sie: Es wird gut. Irgendwann werden sie Land erreichen.

Die "Cap Anamur". © dpa - Bildfunk Foto: epa ansa Franco Lannino
Das Hamburger Frachtschiff "Cap Anamur" wurde für die Rettungsaktion im südchinesischen Meer umgebaut.

Davon, dass im Meer Helfer unterwegs sind und Menschen von den viel zu kleinen Booten retten, haben sie nie gehört. Schwimmen kann keiner von ihnen. Für Alicia spielt das keine Rolle. Sie unternimmt die Reise mit den Augen eines Kindes und bemerkt die Gefahr kaum. Gut zwei Dutzend Menschen sind auf dem Boot. Manche singen buddhistische Lieder, die Christen ihre. Und wenn sie nicht singen, spielen sie mit den Kindern. Es gibt Corned Beef und Wasser, das nach Motoröl schmeckt. Einmal hält ein Handelsschiff. Die Menschen reden in einer anderen Sprache, lassen eine Kiste Kekse da - und fahren weiter.

Eines Morgens bricht die Schiffsschraube

Am Morgen des dritten Tages bricht die Schiffsschraube. Wie das passiert ist, kann niemand genau sagen. Sie fahren jetzt viel langsamer und eigentlich immer im Kreis - aber in der Nacht sehen sie Delfine. "Das ist ein gutes Zeichen", sagen die Erwachsenen.

Von dem, was dann geschieht, gibt es Filmaufnahmen. Ein Kamerateam des Sender Freies Berlin (SFB) begleitet damals die "Cap Anamur" für eine Dokumentation - und in einer kurzen Einstellung sieht man eine Nussschale unbeweglich auf dem Ozean liegen. Der Sprecher sagt aus dem Off: "Die Leute hätten keine Chance gehabt. Denn die Strömung der See hätte sie so lange im Kreis geschoben, bis sie verdurstet wären."

Foto: Flüchtlinge in Seenot winken dem Frachter "Cap Anamur" zu.
Flüchtende winken der "Cap Anamur".
"Ihr seid in Sicherheit!"

Das Boot ist nur ein paar sehr verwackelte Sekunden im Bild, aber wenn man genau hinsieht, erkennt man nur wenige, erwachsene Menschen darauf: Denn als das große Schiff sich damals nähert, schickt der Vater alle Kinder unter Deck. Er hat Angst, dass Piraten auf dem Frachter sind. "Erst, als wir andere Gerettete hörten, schöpften wir langsam Vertrauen." Die Menschen rufen: "Keine Angst!" oder "Jetzt seid ihr in Sicherheit." An Bord gibt man Alicia Tee, Kleidung und eine Decke. An der Wand des Rettungsschiffes hängt ein Kalender. Er zeigt einen kahlen Baum im Schnee. "Das ist Deutschland", sagt jemand.

Ein neues Leben in Deutschland

Retter und Gerettete an Bord des Hamburger Frachters "Cap Anamur" © privat
Auf der "Cap Anamur": Alicia Le-Sattlers Vater (ganz links) im Gespräch mit Besatzungsmitgliedern und anderen Geretteten.

Über ein Auffanglager in Singapur kommt die Familie ins Ruhrgebiet, nach einem einjährigen Deutschkurs auf der Volkshochschule geht Alicia auf eine Schule. Später heiratet sie einen Deutschen und ist nun selbst Deutsche, genau wie die beiden gemeinsamen Söhne. Sie arbeitet heute als Patentanwältin.

"Wer in Seenot ist, muss gerettet werden"

Alicia Le-Sattler hat sich einiges aufgebaut - und manchmal wird all das für einen Moment infrage gestellt. Etwa dann, wenn sie in den Nachrichten davon hört, dass Menschen im Mittelmeer ertrunken sind. Oder dass Flüchtende gerettet wurden und in keinem Hafen anlegen dürfen. Manchmal hört sie dann in ihrem Umfeld Kommentare wie "Die gehören doch nicht hierher!" Das trifft sie sehr. "Die Leute sagen dann immer: 'Aber du bist natürlich nicht gemeint.' Aber ich fühle mich mitgemeint, auch nach fast 40 Jahren in Deutschland." Sie findet: "Wer in Seenot ist, muss gerettet werden. Und wer gerettet ist, muss irgendwo anlegen können." Nur, dass viele der Flüchtenden heute keine Pässe dabei hätten, wundere sie: "Wir hatten unsere Papiere immer dabei. Man muss doch wissen, wer man ist."

Manchmal ist die Angst wieder da

Im Jahr 2016 leihen sie sich ein Motorboot aus, sie, ihr Mann und die Söhne; im Urlaub auf Mallorca. Es macht ganz schön Tempo - so sehr, dass sie Angst bekommt. Aus Alicia Le-Sattler wird wieder Alicia Thanh Truc Le, ein Mädchen in einem kleinen Flüchtlingsboot auf dem südchinesischen Meer. Dann fällt ihr ein: "Ich kann jetzt ja schwimmen." Sie ist in Sicherheit, hier auf dem Mittelmeer.

Weitere Informationen
Ein Flüchtlingsboot kentert Ende der 70er-Jahre beim Anlegen an die "Cap Anamur". Alle Flüchtlinge konnten gerettet werden. © dpa - Bildarchiv Foto: Scharsich

Wie die "Cap Anamur" die Boatpeople rettete

Am 13. August 1979 startet der Frachter "Cap Anamur" seine erste Hilfsaktion, um in Seenot geratene Flüchtlinge vor Vietnam aufzunehmen. 11.000 Boatpeople können bis 1987 gerettet werden. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR 90,3 | Hamburg Journal | 16.08.2019 | 19:30 Uhr

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