Stand: 15.05.2020 13:14 Uhr

Chronomedizin: Therapie zur optimalen Zeit

Zeiger einer Uhr (Montage) © fotolia.com Foto: dakolix, senoldo
Jeder Mensch hat seinen ganz eigenen Biorhythmus.

Forscher der Berliner Charité haben einen Bluttest entwickelt, der die genaue Zeit der inneren Uhr bestimmen kann. Bislang ließ sich nicht sagen, wie die innere Uhr tickt und welche Uhrzeit sie anzeigt. Genau das kann jetzt aber mithilfe des neu entwickelten Tests bei jedem Patienten erfolgen. Eine besondere Bedeutung soll diesem Test bei der Verabreichung und Einnahme von Medikamenten und bei der Präzisierung diagnostischer Maßnahmen zukommen: Die Einnahme von Medikamenten soll mithilfe des Tests zum individuell optimalsten Zeitpunkt erfolgen können, sodass sich ihre Wirksamkeit verbessert und Nebenwirkungen reduziert werden können. Zudem ermöglicht der Test, Ergebnisse von körperlichen Untersuchungen unter der Berücksichtigung des individuellen biologischen Rhythmus besser einzuordnen. In etwa zwei Jahren wird der Test auf den Markt kommen. 

Biorhythmus ist individuell unterschiedlich

Der menschliche Körper arbeitet nicht immer gleich. Vielmehr schwanken sämtliche Funktionen und Vorgänge rhythmisch im Tagesverlauf. So werden zum Beispiel verschiedene Hormone zu unterschiedlichen Tageszeiten produziert. Und einzelne Organe sind morgens oder abends aktiver. Das bedeutet auch, dass die Ergebnisse medizinischer Untersuchungen und die Wirkung von Medikamenten von der Tageszeit abhängig sind - und zwar bei jedem individuell verschieden. Daher sollten medizinische Maßnahmen an den jeweiligen Biorhythmus angepasst werden. Wenn Medikamenten zu einem optimalen Zeitpunkt verabreicht werden können, wirken sie besser, sodass die verabreichte Dosis und damit auch unerwünschte Wirkungen reduziert werden können. Einige Therapien sind bereits an den körperlichen Rhythmus gepasst: So werden Medikamente gegen zu hohe Blutfette in der Regel abends eingenommen, weil die körpereigene Cholesterinproduktion vor allem nachts stattfindet.

Jede Zelle hat eine eigene innere Uhr

Dass die innere Uhr eine wichtige Rolle für die Gesundheit spielt, ist schon länger bekannt. Tatsächlich gibt es nicht nur die eine innere Uhr, vielmehr besitzt jede einzelne Zelle des Körpers eine innere Uhr. Die verschiedenen Uhren folgen einer Art Hierarchie. Die Hauptuhr im Gehirn synchronisiert in Abhängigkeit des Hell-Dunkel-Rhythmus alle anderen inneren Uhren.

Bluttest: Genanalyse zur Bestimmung des Biorhythmus

Bisher war die Bestimmung der inneren Uhrzeit nur subjektiv möglich: Testpersonen schätzten ihren eigenen Zustand mithilfe standardisierter Fragebögen ein. Parallel dazu wurde aus Speichelproben der Testpersonen der Spiegel des Schlafhormons Melatonin bestimmt. Der neu entwickelte Bluttest dagegen basiert auf der Analyse von Genen. Um herauszufinden, welche Gene im Tagesverlauf unterschiedliche Aktivitäten aufweisen, müssen sie unter stabilen Bedingungen untersucht werden. Das bedeutet, dass möglichst alle Faktoren  - vor allem Lichtveränderungen, die den Tagesrhythmus beeinflussen - ausgeschaltet werden müssen. Während der Testphase wurden die Probanden daher 40 Stunden lang bei konstanten Bedingungen komplett von äußeren Einflüssen abgeschirmt. So wurde sichergestellt, dass die Veränderungen in der Genaktivität tatsächlich aus dem Gen selbst kommen und nicht durch äußere Faktoren hervorgerufen wurden. 20.000 Gene untersuchten die Forscher mithilfe speziell entwickelter Computerprogramme. 15 Prozent der Gene zeigten eine von der Tageszeit abhängige Aktivität. Der genaue Rhythmus ist dabei individuell ganz unterschiedlich. Um aus den Forschungsergebnissen einen alltagstauglichen Test zu entwickeln, wurden schließlich zwölf Gene definiert, an denen sich die individuelle Uhrzeit ablesen lässt.

Krebs: Die richtige Tageszeit für die Chemotherapie

Die Erkenntnis, dass verschiedene Zellen zu verschiedenen Zeitpunkten ganz unterschiedlich auf äußere Einflüsse wie Medikamente reagieren, ist zum Beispiel auch für die Chemotherapie bei Krebspatienten von großer Bedeutung. Die Wirkung der Chemotherapeutika ist nämlich am effektivsten, wenn die Tumorzellen sich gerade teilen. Außerdem gibt es Zeitfenster, in denen die Medikamente für die gesunden Zellen weniger giftig sind und somit weniger Nebenwirkungen verursachen. Studien haben gezeigt, dass Chemotherapien schonender sind, wenn sie nicht morgens verabreicht werden. So könnte sich vermeiden lassen, dass Haarwurzeln geschädigt werden und die Haare ausfallen. Allerdings waren die Ergebnisse nur bei Männern eindeutig. Bei Frauen ist es komplizierter, weil bei ihnen die tageszeitlichen Rhythmen noch durch den hormonellen Vier-Wochen-Rhythmus überlagert werden. Auch die Wirksamkeit der Bestrahlungen bei Gebärmutterhalskrebs folgt einer zirkadianen Rhythmik. Sie wirkt nachmittags stärker als morgens und ist besser verträglich.

Störungen der inneren Uhr sind ungesund

Die innere Uhr ist abhängig von Licht und Dunkelheit. Künstliches Licht verändert die inneren Abläufe und das macht langfristig krank. Wenn der Ablauf der inneren Uhr ab und zu gestört wird, ist das für den Körper kein Problem. Sobald Menschen jedoch permanent gegen den normalen Biorhythmus arbeiten, kann dies auf lange Sicht krank machen. So werden Krankheiten wie Diabetes, Depressionen und Krebs mit jahrzehntelanger Schichtarbeit in Verbindung gebracht. Mittlerweile ist auch belegt, dass eine aus dem Takt geratene innere Uhr den Stoffwechsel und die Zellteilung stört, was zur Entstehung von Krebszellen führen kann.

Weitere Informationen
Ein junger Mann liegt schlaflos in seinem Bett. © Colourbox

Besser schlafen: Tipps für eine erholsame Nacht

Unser Körper braucht Schlaf, um sich zu regenerieren. Doch wieviel Schlaf ist ausreichend und was hilft bei Schlafstörungen? mehr

Experten zum Thema

Priv.-Doz. Dr. Dieter Kunz, Chefarzt
Klinik für Schlaf- und Chronomedizin
St. Hedwig-Krankenhaus
Große Hamburger Straße 5-11
10115 Berlin
(030) 2311-2901
www.alexianer-berlin-hedwigkliniken.de

Prof. Dr. Jutta Hübner, Oberärztin
Medizinischen Klinik II, Hämatologie und Internistische Onkologie
Stiftungsprofessur für Integrative Onkologie der Deutschen Krebshilfe
Universitätsklinikum Jena
Am Klinikum 1
07747 Jena
www.uniklinikum-jena.de

Prof. Dr. Achim Kramer, Leiter
Fachbereich Chronobiologie
Institut für Medizinische Immunologie
Charité - Universitätsmedizin Berlin
Charitéplatz 1
10117 Berlin
https://immunologie.charite.de

Dieses Thema im Programm:

Visite | 19.05.2020 | 20:15 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Medizinische Therapie

Medizinische Forschung

Mehr Gesundheitsthemen

Brokkoli-Sprossen wachsen auf einer Kokosmatte © imago / Zoonar / Nataliia Zhekova Foto: Nataliia Zhekova

Gesunde Sprossen: Was steckt in Alfalfa, Kresse, Brokkoli?

Sprossen und Keimlinge sind extrem reich an gesunden Nährstoffen und Vitaminen. Gegen Bakterien und Pilze braucht es Hygiene. mehr

Gesundheits-Themen

Ratgeber