Von Bestrafung bis Befreiung: Schwules Leben von 1970 bis heute
Es ist noch kein Menschenalter her, da drohte homosexuellen Männern in Deutschland Gefängnis. Offen schwul sein war auch nach den ersten Strafrechtsrefomen noch lange undenkbar.
In den 1970er bis 90er-Jahren verändert sich die Haltung der Gesellschaft nur langsam, ein weiter Weg vom Tabu zur Toleranz. Stigmatisierung, Angst und der Kampf um Akzeptanz prägen das Leben für Schwule.
Ein ungeheurer Angstdruck
"Da war immer ein 'Hab-Acht-Bewusstsein', immer ein Gefühl von 'sei vorsichtig, geh nicht damit hausieren'. Es gab einen ungeheuren Angstdruck", erzählt der heute 82-jährige Gottfried Lorenz. Damals, Anfang der 1970er-Jahre, geht er als Referendar nach Flensburg, arbeitet danach in Reinbek. Später gründet der Lehrer das Gymnasium in Glinde mit, wo er bis heute lebt. Er habe Glück gehabt bei seiner Arbeit in Schleswig-Holstein. "Ein Personalratsvorsitzender wollte mich wohl ein bisschen näher kennenlernen und kam darauf zu sprechen. Ich war nicht mutig genug zu sagen, es sei so. Aber ich glaube, er wusste Bescheid. Es war ein sehr gutes Gespräch, bei dem ich auch merkte: Es war ihm völlig egal. Hauptsache, ich tauge was als Lehrer", erinnert sich Gottfried Lorenz. Seine Strategie damals: Möglichst nicht auffallen.
§175: Homosexualität unter Strafe
Denn: Liebe und Sex unter Männern, das war lange strafbar. Der Paragraf 175 wurde 1851 in Deutschland eingeführt, von den Nationalsozialisten noch verschärft und erst 1994 restlos abgeschafft. Wie viele Schwule lebte Lorenz nach außen das Leben eines alleinstehenden heterosexuellen Mannes. Auch nach den ersten politischen Reformen blieb die Haltung der Bevölkerung gegenüber Homosexuellen kritisch, so Lorenz. "Ich wurde nur selten wirklich angegriffen, aber man hat versucht, mich zu erpressen, bevor ich nach Schleswig-Holstein kam und lange blieb dieses Gefühl: Es kann jederzeit instrumentalisiert und gegen dich verwendet werden."
Gleichstellung und Sichtbarkeit
Sorge und Angst als ständiger Begleiter, davon erzählen viele Menschen aus der queeren Community in Schleswig-Holstein. Oliver Pries hat für den Lübecker CSD die jahrzehntelang weggeschwiegenen Geschichten aufgeschrieben. "Nahezu alle Menschen, mit denen ich gesprochen habe, mussten kämpfen, um das sein zu können, was sie sind. Und um so leben zu können, wie sie gerne leben möchten. Dahinter stecken immer oder steckten auch immer Leben, die lange mit angezogener Handbremse geführt werden mussten", erzählt der Lübecker Journalist: "Das war tatsächlich eine sehr emotionale Reise, auf die ich da gegangen bin, weil die Interviewpartner auch zum Teil sehr offen ihre Lebensgeschichten erzählt haben."
Neue Freiheit nach Pensionierung
Und Gottfried Lorenz? Unbeschwert wohlgefühlt habe er sich lange nicht, sagt er, aber er habe sich arrangiert. Er blickt zufrieden zurück auf sein Leben als Lehrer und Mitgründer des Gymnasiums Glinde. Seine Pensionierung schenkte ihm neue Freiheit: "Dann fiel der gesellschaftliche Druck von mir ab." Heute schreibt er Aufsätze zum Thema Homosexualität im 20. Jahrhundert. Es ist sein Anteil bei der Aufarbeitung einer Zeit, die er selbst noch erlebt hat. Als Schwulsein noch strafbar war.