Eine Homepage zum Thema "jugendliche und sexualisierte Gewalt" ist auf einem Computer-Bildschirm eingeblendet. © NDR Foto: Andrea Schmidt

Mehr als Doktorspiele: Sexualisierte Gewalt unter Kindern nimmt zu

Stand: 10.02.2022 06:00 Uhr

Sexuelle Gewalt an Kindern von Kindern: Die Zahl dieser Vorfälle in Schleswig-Holstein nimmt zu. Nach Angaben von Fachleuten sind es nicht selten Grundschulkinder, die übergriffig werden - sei es auf dem Schulhof oder digital im Netz.

von Andrea Schmidt

Eine Schultoilette irgendwo in Schleswig-Holstein: Drei Jungs aus der dritten Klasse schließen sich mit einem etwas jüngeren Mädchen in der Toilette ein, zwingen es sich auszuziehen und fassen es an ihren Geschlechtsteilen an. Solch einen Fall hatte die Leiterin des Kinderschutzzentrums Kiel, Lidija Baumann, im vergangenen Jahr gleich mehrere Male erlebt. Sexuelle Gewalt unter Kindern nimmt ihren Angaben zufolge zu - sie spricht für Kiel sowie die Kreise Plön und Rendsburg-Eckernförde. Und die Kinder werden jünger: "Es ist nicht unbedingt die Quantität, die mich schockiert und entsetzt, sondern die Massivität dieser Fälle", sagt die Psychologin.

Sexualisierte Grenzüberschreitungen

Lidija Baumann, Leiterin des Kinderschutzzentrums Kiel lächelt in die Kamera. © NDR
Die Leiterin und Psychologin Lidija Baumann vom Kinderschutzzentrum in Kiel schildert Fälle von sexualisierter Gewalt unter Kindern.

Lidija Baumann gilt als Expertin auf dem Gebiet, hat mehr als 20 Jahre Berufserfahrung und wird auch vom Kinderschutzbund Schleswig-Holstein angefragt. Die Psychologin stellt fest, dass es sich bei Gewalt unter Kindern nicht um ein ganz neues Phänomen handelt. Aber meist werden Kinder übergriffig, die selbst Gewalt erlebt haben. Das könne sie jetzt nicht immer erkennen.

Es gebe Fälle, in denen Kinder in der Schule oder auch in der Kita andere Kinder bedroht haben, "sie gezwungen haben zu Handlungen, die die Kinder absolut abgelehnt haben, sie verängstigt haben und es deutlich sexualisierte Grenzüberschreitungen waren.“ Die Psychologin redet hier nicht von den viel zitierten Doktorspielchen, sondern von viel heftigerer Gewalt.

Mehr Fälle in Kiel, Flensburg oder Elmshorn

Im Zentrum in Kiel gab es 2021 eine Zunahme von 15 Fällen. Auch andere Einrichtungen melden mehr Vorkommnisse dieser Art. Bei der Beratungsstelle "Wagemut" in Flensburg beispielsweise wurden im vergangenen Jahr 21 Vorkommnisse gemeldet - mehr als zuvor. Und auch die Einrichtung "Wendepunkt" in Elmshorn spricht von einer Zunahme von sexueller Gewalt unter Kindern. Die Zahlen an sich wirken nicht immens, "aber jeder einzelne Fall ist schlimm", sagt Baumann. Und lange nicht alles werde natürlich gemeldet oder komme an die Oberfläche.

Viele Fälle werden nicht gemeldet

Das Landeskriminalamt weist auf die Strafmündigkeit hin. Wer bei Begehung einer Tat noch nicht 14 Jahre alt ist, ist schuldunfähig. Das heißt also, dass im Bereich Kinderkrimininalität gar keine Zahlen vorliegen können. Bei den 14- bis 16-Jährigen gibt es dagegen Zahlen: 2020 waren es in Schleswig-Holstein 94 Tatverdächtige - ähnlich viele wie 2019. 2018 waren es 77 Tatverdächtige, also weniger (die Opfer waren jeweils unter 18 Jahre). Lange nicht alle Fälle werden der Polizei gemeldet, heißt es auch beim LKA. Und deshalb sei es gut, dass es Opferberatungsstellen gibt.

Sexuelle Grenzüberschreitungen über das Handy

Das eine ist die physische Gewalt, das andere ist die Gewalt, die digital, also im Netz, passiert. Statistiken zeigen, dass bereits zwei Drittel aller Drittklässler ein Handy haben. Und häufig unbemerkt von Eltern oder Lehrern werden Kindern hier Dinge zugeschickt, die nicht mehr in Ordnung sind. Die Leiterin des Präventions-Institutes Petze, Heike Holz, zeigt einen realen Chatverlauf unter Jugendlichen. Hier ein Ausschnitt:

Ein Whatsapp-Chatverlauf zeigt eine Unterhaltung zweier Jugendlicher über ein Video mit sexueller Gewalt. © NDR Foto: Andrea Schmidt
Ein realer Chatverlauf unter Jugendlichen.

- "Digger das ist zu krass"

- "no front. zieh dir Minute 7 rein, ab da wird sie richtig hard genommen"

- Bild vom entsetzten Smiley

- "Du pussy"

-"Warum schickst du mir son scheiß"

"Sie ist doch richtig geil. Kriegst kein hoch oder was???"

Kurzfilme, GIFs und Dickpics werden verschickt

Sexuelle Nachrichten werden verstärkt in allen möglichen Formen verschickt, beobachtet Heike Holz von Petze. "Das können GIFs oder Kurzfilme sein, das kann aber auch der Chat an sich sein, der sexualisiert ist, das können sexuelle Grenzverletzungen bis hin zu sexuellen Beleidigungen sein." Auch sogenannte Dickpics, also Abbildungen von Penissen, werden unter Kindern und Jugendlichen ungefragt zugesandt. Auch bei Online-Videospielen gibt es Chatfunktionen und auch hier finden Grenzverletzungen statt. Heike Holz sagte im Gespräch mit NDR Schleswig-Holstein, dass Jugendliche mitunter sogar kinderpornographisches Material auf ihren Handys oder Tablets hätten. "Hier gibt es mehr Fälle von Anzeigen."

Sexualisierte Gewalt: Lehrer bitten um Fortbildungen

Leiterin der Präventions-Fachstelle Petze, Heike Holz sitzt in ihrem Büro und lächelt in die Kamera. © NDR Foto: Andrea Schmidt
Nicht das Handy verteufeln, sondern Kinder besser über Gefahren und Kinderrechte aufklären - das ist der Ansatz von Heike Holz vom Petze Institut.

Sexuelle Gewalt unter Kindern – dieses Thema kommt laut Petze mehr und mehr in den Schulen an. Eltern sind besorgt, Lehrer brauchen verstärkt Fortbildungen in diesem Bereich. Nicht selten werden die Chats aber auch von Erwachsenen heruntergespielt, meint Holz. Dann komme schon mal der Kommentar: "Was nutzt du auch diese Medien?" Diese Reaktion aber sei falsch. "Gerade in Zeiten der Pandemie hält das Handy die Kinder auch über Wasser." Auf diese Art zu kommunizieren, sei ja auch schön und hilfreich für junge Menschen.

Gestresste Eltern mit wenig Zeit

Dennoch fragt man sich: Warum gibt es diese vermehrten sexuellen Ausbrüche bei Kindern? Lidija Baumann vom Kinderschutzzentrum Kiel vermutet, dass es mit der Pandemie zusammenhängt. "Eltern sind oftmals gestresst in dieser Zeit, können Kindern wenig Struktur anbieten, wenig Orientierung." Hingucken, den Kindern mehr Aufmerksamkeit schenken, das sei jetzt wichtig. Und die eigene Medienkompetenz stärken, sich mit den Kommunikationswegen der Kinder im Internet auseinandersetzen - auch das ist eine dringende Aufgabe von Müttern, Vätern und Lehrkräften.

Neues Hilfsangebot bald online - Land beteiligt sich

Die Petze arbeitet gerade an einem neuen Online-Informationsangebot. Auf der Seite www.echt-krass.info sollen spielerisch Quizze und Tests angeboten werden. Jugendliche können so herausfinden, was sexuelle Grenzverletzungen sind. "Es geht darum, was ist noch okay, wo hört der Spaß auf. Wo hole ich mir Hilfe, wo ist Schluss mit lustig." Die Internetplattform wird mit Geldern des Landes unterstützt und geht voraussichtlich in wenigen Wochen online. Weitere Hilfsangebote bekommen besorgte Eltern, Kinder und Jugendliche auch auf den Seiten www.schleswig-holstein.de und www.kinderschutzbund-sh.de sowie beim Sorgentelefon "Nummer gegen Kummer" (116 111).

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Nachrichten für Schleswig-Holstein | 10.02.2022 | 08:00 Uhr

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