Krieg und Flucht: Schulklasse redet mit junger Ukrainerin
Oleksandra Vizianova ist aus Mariupol geflüchtet und lebt nun bei einer Lehrerin in Kiel. Vor einer Schulklasse erzählt sie, was sie erlebt hat. Die Schülerinnen und Schüler hängen an ihren Lippen.
Dieser Ort könnte nicht schöner sein, nicht friedlicher. Weit weg vom Krieg. Die Lernwerft liegt direkt an der Kieler Förde. Die Sonne glitzert auf dem Wasser. Das Gebäude: ein ehemaliges Garnisonslazarett, Baujahr 1877. Gelber Klinker. Sehr freundlich.

Oleksandra Vizianova, genannt Sascha, ist überpünktlich. Es ist 7.30 Uhr. "Ich bin aufgeregt", sagt sie und lacht. Gleich wird sie einer Geschichtsklasse, zwölfter Jahrgang, von dem Krieg in ihrer Heimat Mariupol erzählen. Und von ihrer Flucht. "Ich fühle, dass ich etwas Wichtiges tue. Ich will den Schülerinnen und Schülern vermitteln, was mir geholfen hat, die Situation zu verstehen und wie ich es geschafft habe, nicht verrückt zu werden. Ich will, dass die Jugendlichen wissen, wie es war, wie es sich anfühlt, was passiert ist."
Zögerlicher Anfang im Klassenraum
Der Klassenraum liegt im zweiten Stock. Sascha steht gegen das Pult gelehnt. Lässig. Helle Jeans, schwarze Vans-Turnschuhe, cremefarbenes Hemd, lange hellbraune Haare, Piercing unter der Unterlippe. Die 23-Jährige strahlt. "Mein Name ist Sascha. Ich komme aus Mariupol. Ich habe die Stadt am 15. März verlassen. Ich war also zwei Wochen im Krieg und ich habe viel gesehen." Und dann fordert sie die Jugendlichen auf, ihr Fragen zu stellen. Doch die zögern erst. Der 18 Jahre alte Jako Wels erklärt das später so: "Es ist schwer, sich Fragen zu überlegen, die nicht zu persönlich und zu tief gehen. Vielleicht könnten sie zu weit gehen, vielleicht könnten sie verletzend wirken und gleichzeitig sollen sie auch nicht oberflächlich sein." Das richtige Maß zu finden, das sei schwierig.
Erste Fragen, emotionale Antworten
Dann trauen sich die Schülerinnen und Schüler doch, Fragen zu stellen. Pia Schulte will wissen, wie die Lage vor Ort, also in Mariupol, ist, "weil es ja schwierig ist einzuschätzen, was man hört und was wirklich stimmt." Es sei chaotisch gewesen, ständig habe es Bombenalarm gegeben. Sie habe viele zerstörte Häuser gesehen. Viele Menschen seien in Keller und Bunker geflohen. Sie nicht. Ihre Wohnung im ersten Stock eines Hochhauses sei ihr sicherer vorgekommen. Stattdessen habe sie mit Kolleginnen und Kollegen vom Roten Kreuz Wasser, Essen und Windeln an die Schutzsuchenden verteilt. Die Zustände in den Kellern seien schrecklich gewesen.
"Als der Krieg losging", erzählt sie weiter, "habe ich einen Teil meiner Gefühle verloren. Als ich Tote in den Straßen gesehen habe, habe ich nicht geweint. Ich habe nur darüber nachgedacht, dass ich etwas für die lebenden Menschen tun muss. Mein Bewusstsein hatte sich geändert. Ich wusste, was ich tun muss, was nicht, was wichtig ist, was unwichtig, was ich zuerst machen muss, was danach." Dann fragt eine Schülerin, wie es ihr damit geht, von diesen Erlebnissen zu berichten. Sascha denkt kurz nach. "Natürlich weine ich manchmal. Oft, ehrlich gesagt. Aber ich möchte das Erlebte teilen, mit so vielen Menschen, wie es geht."
Dann fragt eine andere Schülerin, wann sie entschieden hat, ihre Heimat zu verlassen. "Am 24. Februar begann der Krieg. Am 25. haben die ersten Leute Mariupol verlassen und am 26. konnten wir Mariupol schon nicht mehr verlassen, weil alle Straßen geschlossen waren. Natürlich hätten wir es versuchen können, aber wenn russische Soldaten unser Auto gesehen hätten, dann hätten sie uns vielleicht gleich getötet." Deswegen seien sie und ihre Familie erst einmal geblieben. Ihre ältere Schwester sei von Anfang an dafür gewesen zu fliehen, doch ihre Eltern und auch sie selbst wollten nicht. Doch dann sei die Lage immer schwieriger geworden.
Bombenangriffe hautnah
Sascha erlebte einen Bombenangriff hautnah. Sie spürte eine Druckwelle und Teile eines Daches und Glas regneten auf sie und die anderen Kauernden herab. Sie zeigt den Zuhörenden ihren Arm: "Ich hatte glücklicherweise nur Kratzer, hier am Arm." Überhaupt findet sie, dass sie großes Glück gehabt habe: "Trotz des Horrors: Ich habe Hände, ich habe Beine. Ich bin okay. Mit meinen Eltern ist alles okay. Sogar mit unserer Wohnung in Mariupol ist alles in Ordnung. Ohne Fenster, aber sie steht noch." Auch ihre Freundinnen und Freunde seien alle am Leben und unversehrt.
Die Schülerinnen und Schüler wollen auch wissen, was sie von den Lieferungen schwerer Waffen halte. Sie muss nachdenken. Dann sagt sie: "Ich finde, dass muss jedes Land selber wissen. Wer helfen will und kann, soll das tun, wer nicht, macht es nicht. Ich kann dazu eigentlich nichts sagen." Dann lacht sie wieder und sagt: "Ich bin doch nur Grafikdesignerin!" Immer wieder macht sie Späße. Dann lockert sich die angespannte Stimmung und allgemeines Lachen durchbricht die Stille. Sascha erzählt, dass das ihre Strategie gewesen sei: Immer wieder habe sie versucht, durch Humor alle um sie herum bei Laune zu halten. Angst helfe niemandem im Krieg.
Zweiwöchige Flucht über Polen
Sie erzählt, wie sie am 15. März dann doch mit ihrer Schwester und einem Freund im Auto geflohen ist, nachdem der Wagen eines Rot-Kreuz-Kollegen durch russische Artillerie beschossen worden war. Noch gab es nur wenige Kontrollposten. Wieso der Freund als Mann habe ausreisen dürfen, lautet eine weitere Frage. Er sei an seinen Fingern von den russischen Kontrolleuren auf Schmauchspuren untersucht worden. Und auf nationalistische Tattoos. Da er aber weder das eine noch das andere hatte, ließen sie ihn mit seinen Begleiterinnen weiterfahren. Sie fuhren über die Frontlinie nach Polen. Zwei Tage brauchten sie. Knapp zwei Wochen nach ihrer Flucht aus Mariupol kam Sascha in Deutschland an. Ihre Schwester und der Freund sind in Polen geblieben.
Sascha ist über Berlin nach Kiel gekommen. Eine Kontaktfrau hatte sie hierher vermittelt. Jetzt lebt sie bei einer Lehrerin der Lernwerft. "Ich bin sehr dankbar. Ich darf bei ihr bleiben, solange es sein muss." Das mache sie sehr glücklich. Kiel sei eine tolle Stadt und die Menschen seien hier so hilfsbereit. Sie sei Seglerin und ein Yachtclub hätte sie eingeladen, ein Boot zu nutzen. Sie stahlt, als sie davon erzählt.
Die Eltern wollen nicht nachkommen
Nur von ihren Eltern ist die 23-Jährige sehr enttäuscht. "Ich hatte einen Plan: Ich lebe mich hier ein, lerne die Sprache, suche mir eine Arbeit und hole dann meine Eltern nach. Aber sie wollen die Ukraine nicht verlassen. Sie haben Angst, die Heimat zu verlassen." Tränen steigen in ihre Augen, sie muss kurz tief durchatmen. Dann hat sie sich wieder gefangen. Was sie gelernt habe, ist offen und flexibel zu sein, dann könne sie alles schaffen. "Vor dem Krieg hab ich alles geplant. Ich mochte es, die Kontrolle zu haben, aber im Krieg hast du keine Kontrolle. Einfach unmöglich. Ich glaube, ich nehme jetzt alles leichter. Es passiert, was eben passiert."
Schüler sind beeindruckt: "Das geht mir sehr nahe"
Die Schülerinnen und Schüler sind bis zum Schluss extrem aufmerksam und hängen an Saschas Lippen. Der 19 Jahre alte Linus Cramer fasst seine Eindrücke so zusammen: "Das geht mir sehr nahe. Das ist sehr emotional." So wie Linus Cramer sind auch die anderen Schülerinnen und Schüler sehr beeindruckt. Hannah Plamper, 17 Jahre alt, sieht es so: "Ich denke, dass es mir vor allen Dingen einfach weitergeholfen hat, das alles zu verstehen und auch mehr nachvollziehen zu können." Als Sascha ihren Vortrag beendet, scharen sich ein paar Schülerinnen und Schüler um sie herum. Sie haben noch mehr Fragen. Wenig später sagt Sascha: "Ich bin wirklich glücklich, dass sie sich interessieren und dass sie sich vor den Problemen nicht verstecken."
Jetzt sitzt sie im geöffneten Fenster. Sie auf der einen Seite, ihr gegenüber eine Schülerin - und sie reden weiter. Hinter ihnen öffnet sich der Blick auf die Kieler Förde. Immer noch glitzert die Sonne auf dem Wasser. Ganz nebenbei hat ein Schüler sie zur Abi-Party eingeladen, damit sie das Gefühl hat, dass sie hier schon ein bisschen dazu gehört. Oleksandra Vizianova, genannt Sascha, weiß ganz sicher: Sie will wieder vor Jugendlichen sprechen. Sie sollen wissen, wie es ist, im Krieg zu sein. Denn Krieg dürfe es nicht geben.
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