Gestapelte Kisten mit Lebensmittelspenden für die Tafel. © NDR Foto: Sebastian Parzanny

Kieler Stadtmission arbeitet am Limit

Stand: 16.09.2022 12:45 Uhr

Noch nie haben sich so viele Hilfesuchende an die Stadtmission gewandt wie im Moment. Die Menschen brauchen Lebensmittelspenden, Beratung - und oft auch eine Bleibe.

von Sebastian Parzanny

"Die Situation ist in den vergangenen Monaten für mich immer schwieriger geworden", erzählt Manfred Siebert während er die Lebensmittel der Tafel von einer grünen Kiste in seinen Einkaufsroller umpackt. "Ich habe auch noch einen Hund zu versorgen. Ausflüge zu machen, das ist für mich schon lange kein Thema mehr. Ich fahre höchstens mal mit dem Bus zum Strand nach Mönkeberg."

Café in Kirchenräumen

Siebert ist bedürftig. Von dem Geld, dass er bekommt, kann er kaum noch leben. Daher kommt er regelmäßig in die Sozialkirche in Kiel-Gaarden. Das Gebäude mit den hohen Decken ist tatsächlich eine Kirche aus den 1970er-Jahren. Gottesdienste finden hier aber nur noch selten statt. Stattdessen gibt es in den Räumen ein Café für Bedürftige und eine Tafel. Dreimal in der Woche gibt es Frühstück, einmal pro Woche mittags warmes Essen. An den Wochenenden werden kleine Konzerte veranstaltet. Hier geht es darum, dass sich die Menschen begegnen, zu Hause nicht vereinsamen. Wer möchte, kann Beratungsgespräche mit den Mitarbeitern führen.

"Es kommen andere Menschen zu uns als vor der Krise"

Einrichtungsleiter Claas Hollmann spürt in solchen Gesprächen häufig Resignation: "Mal abwarten, was noch kommt - das höre ich ganz häufig in den vergangenen Wochen", sagt er.

Die Sozialkirche in Gaarden gibt es seit 14 Jahren, fast genauso lange ist Hollmann dabei. Seit einigen Monaten fällt ihm auf, dass ganz andere Menschen zum Essen kommen als zuvor. Menschen, die nicht gedacht hätten, dass sie bedürftig werden könnten. "Wir haben zum Beispiel mehr Studenten und mehr Alleinerziehende als vorher. Sie kommen zu uns, weil die Lebensmittel in den Supermärkten so teuer geworden sind."

Nicht genug Lebensmittel für alle

Doch im Moment werden keine neuen Nutzer aufgenommen. Vor einigen Monaten haben die Kieler Tafeln einen Aufnahmestopp verhängt. Es gibt nicht ausreichend Lebensmittel, um alle zu versorgen. Denn Supermärkte spenden weniger als noch vor einigen Jahren. Sie verkaufen Produkte, die nah am Mindesthaltbarkeitsdatum sind jetzt selbst. "Unsere grünen Kisten sind nicht mehr so voll. Selbst Lebensmittel aussuchen, wie in einem Supermarkt, das gibt es schon länger nicht mehr. Wir stellen die Kisten vorher mit dem zusammen, was wir haben", berichtet Einrichtungsleiter Hollmann, dem zusätzlich der Mitarbeitermangel Probleme macht.

Viele Obdachlose befürchtet

Sebastian Rehbach ist häufiger in der Sozialkirche zu Gast, um sich mit Claas Hollmann über die schwierige Situation auszutauschen. Der stellvertretende Geschäftsführer der Kieler Stadtmission fürchtet, dass die Probleme, mit den weniger gewordenen Lebensmittelspenden erst der Anfang sein könnten: "Wir stellen fest, dass immer mehr Menschen ihre Wohnungen verlieren, weil sie sie aufgrund der hohen Kosten nicht mehr zahlen können. Auch das sind Leute, die für sich niemals gedacht hätten, dass sie mal wohnungslos werden. Und in die Beratungsstellen kommen immer mehr, die fürchten, dass sie wohnungslos werden könnten."

Nach Angaben der Diakonie Schleswig-Holstein gibt es nicht nur in Kiel, sondern zum Beispiel auch in Flensburg und Husum eine stark steigende Zahl an Beratungsgesprächen von Menschen, die fürchten, ihre Bleibe zu verlieren.

Laut Wohnungslosenstatistik sind rund 8.000 Menschen in Schleswig-Holstein ohne Wohnung. Inoffiziell geht man eher von 11.000 aus, sagt Rehbach. "Jetzt warten viele ihre Strom- und Heizrechnungen ab. Es gibt viel Unsicherheit, was dann passiert", berichtet er.

Rehbach und seine Kollegen würden sich von der Politik wünschen, dass sie dafür sorgt, dass Zwangsräumungen verboten werden, solange die Energiekrise besteht. "Denn wir versuchen alles, damit die Menschen in ihren Wohnungen bleiben können", sagt er.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Nachrichten für Schleswig-Holstein | 15.09.2022 | 10:00 Uhr

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