Vier Tage nach Flucht: Seemann stoppt in Brunsbüttel
Die Seemannsmission in Brunsbüttel ist besonders jetzt ein Schutzort. Hier können sich die Seeleute ablenken. Teilweise arbeiten Ukrainer und Russen gemeinsam auf einem Schiff.
von Laura Albus
Anatoli Osadchi ist ein Seemann. Groß gewachsen, kräftige Statur. Er wirkt wie einer, der anpacken kann, auch wenn es schwer wird. Doch die Last, die der Seemann gerade auf seinen Schultern trägt, ist groß. Als er vor der Brunsbütteler Seemannsmission (Kreis Dithmarschen) Platz nimmt um zu berichten, wird seine weiche Miene kurz sehr ernst. Er möchte das Interview nicht auf Ukrainisch, sondern auf Russisch führen - denn er will, dass die russische Bevölkerung versteht, was mit seiner Heimat gerade passiert.
Nach der Flucht direkt wieder auf das Schiff
Seit 35 Jahren fährt Anatoli Osadchi zur See, arbeitet immer wieder monatelang weit weg von seiner Familie, seiner Frau Viktoria und Tochter Veronika. Sie haben ein Haus in Odessa. Direkt am Hang gelegen mit Blick auf das Schwarze Meer, berichtet er, wo an der Flaniermeile am Strand noch bis vor Kurzem Touristen Eis und Aperol Spritz genossen haben. Immer wieder blickte er in den vergangenen Wochen auf das Meer - und sah, wie die russischen Kriegsschiffe näher rückten. Manchmal harrten sie mehrere Tage im Bunker oder im Keller aus. Dann die Entscheidung: Sie fliehen. Am 13. März per Auto und Fähre nach Bukarest. Doch statt dort das Ende des Krieges abzuwarten, fuhr Anatoli Osadchi weiter nach Brunsbüttel. Er verbringt eine Nacht in der Seemannsmission und steigt nur vier Tage nach seiner Flucht an Bord des Öltankers, auf dem er arbeitet. Denn nur wenn er arbeitet, so sagt er, könne er die ukrainische Wirtschaft unterstützen. Und auch Sorge dafür tragen, dass die Familie mit Geld versorgt wird.
Angst vor der Atmosphäre an Bord
Vier Monate war er zuletzt an Land. Normalerweise gilt auf Schiffen eine strenge Hierarchie. Der Kapitän hat das letzte Wort. Wie es nun sein wird, wo sein Kapitän ein Russe ist, weiß Anatoli Osadchi nicht.
"Ich weiß, dass die Russen hier nichts für den Krieg können." Anatoli Osadchi, Seemann
Nur, dass er etwas Angst hat vor der Atmosphäre an Bord, denn auch zur Crew gehören Russen und Ukrainer. Während sich in seiner Heimat Männer dieser beiden Nationalitäten bekriegen, sollen sie an Bord Hand in Hand arbeiten. Er sagt: "Ich weiß, dass die Russen hier nichts für den Krieg können." Zwei Monate lang wird er in diesem Team arbeiten. Viele Optionen, dass die Crew vorzeitig durchwechselt, scheint es nicht zu geben. Der Seemann fordert: "Da muss man vielleicht später die Konstellation verändern, dass es Russen und Ukrainer nicht mehr auf einem Schiff geben darf."
Hilfe für Seeleute aus Mariupol
Während sich der Diakon der Seemannsmission Brunsbüttel um Anatoli Osadchi kümmert, ihn mit einer SIM-Karte fürs Handy versorgt und letzte organisatorische Dinge bespricht, kommen bereits die nächsten Seeleute an: fünf Ukrainer, alle aus Mariupol. Sie waren zuletzt vor einigen Monaten zu Hause, als ihre Stadt noch unversehrt war. Als im Theater der Hafenstadt noch Aufführungen stattfanden und es nicht als Schutzbunker für hunderte Zivilisten herhalten musste. Kontakt zu ihren Familien hatten einige seit zehn, manche seit 20 Tagen nicht. Auch diese fünf Männer und eine Frau sind für einen Abend in der Seemannsmission, um abzuschalten, sich abzulenken, Kraft zu tanken. Sie sitzen um einen Tisch auf der Veranda. Wurst, Käse, Rotwein und qualmende Zigaretten. Aus der Ferne betrachtet, könnte es ein ganz normaler Abend unter Freunden sein. Aus der Nähe aber sind es fünf Landsleute, die sich gegenseitig stützen. Auf ihrem Schiff ist die gesamte 21-köpfige Besatzung aus der Ukraine. Die SIM-Karten, die auch sie von Seemannsdiakon Leon Meier bekommen, sie bringen ihnen nicht viel. Die Telefon- und Internetverbindungen zu Hause in Mariupol sind zerstört.
Balanceakt zwischen Trost und Ablenkung
Das Team der Seemannsmission in Brunsbüttel ist besonders in diesen Tagen gefragt. Sie organisieren und versuchen den Seeleuten den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Eine Ausgewogenheit zu schaffen, zwischen Trost spenden einerseits und das Thema Krieg zu umschiffen andererseits. Bei Anatoli Osadchi hat es geklappt, er konnte sich ausruhen nach den Strapazen der vergangenen Tage und Kraft schöpfen für die kommenden zwei Monate an Bord.
