Campusklasse an der Nordlicht-Schule in Süderbrarup © NDR

Campusklassen: Wenn Inklusion nichts Besonderes mehr ist

Stand: 01.07.2022 05:00 Uhr

Kinder mit Beeinträchtigungen lernen entweder einzeln an Regelschulen oder abgesondert in Förderzentren. Das Konzept Campusklasse vereint beides: Alle Kinder können so gemeinsam lernen und spielen.

von Vera Vester

Alle Wörter mit einem großen "G" muss er gelb anmalen, die mit einem kleinen "G" grün, die ohne großem oder kleinem "G" blau - so erklärt Brian sein Deutsch-Arbeitsblatt. Und schnell ist das dann nicht mehr weiß, sondern bunt. Wer das Blatt sieht, würde es der ersten Klasse einer Grundschule zuordnen. Dabei sind Erstklässler sechs, sieben Jahre alt. Brian aber ist schon zehn. Offiziell gehört er zum Förderzentrum in Süderbrarup, Bereich Geistige Entwicklung. Und obwohl er schon seit vier Jahren zur Schule geht, hat er das Förderzentrum im Kreis Schleswig-Flensburg quasi noch nie von innen gesehen: Sein Unterricht ist schon von Anfang an in der benachbarten Grundschule.

Unterricht nach individueller Begabung

Brian, Schüler einer Campusklasse © NDR
Brian ist Förderschüler, geht aber auch in den Unterricht der Regelklassen.

Brian und sieben andere Kinder bilden nämlich die so genannte Campusklasse. "Wir haben ganz verschiedene Kinder hier. Wir haben Kinder, die das fetale Alkoholsyndrom haben, die Konzentrationsschwierigkeiten haben. Wir haben Kinder, die einfach langsamer lernen. Manche sind auch ein bisschen wuselig, können schwer sitzen bleiben," erklärt Sonderschulpädagogin Ann-Kathrin Störmer. Deshalb haben sie hier auch alle gemeinsam ihren Förderunterricht, trotzdem gehen sie als Campusklasse auch in den Regelunterricht der Grundschule - entweder alle acht zusammen oder als Einzelne, je nach individueller Begabung. Während Brian sein Arbeitsblatt weiter ausmalt, sagt er: "Vor allem bin ich gut in Sport, da habe ich eine Eins. Mein Lieblingsfach ist Mathe, sonst Deutsch, aber ich kann noch nicht so gut lesen." Und weil er verhältnismäßig fitter in Mathe ist als in Deutsch und ihm das auch viel Spaß macht, geht er einmal in der Woche in den "normalen" Matheunterricht.

"Inklusion ist bei uns kein Thema"

Er packt sein Heft und seine Stifte ein, geht einen Flur weiter. Hier arbeitet jeder für sich, bekommt Aufgaben dem eigenen Lernniveau angepasst. "Plus rechnen muss ich hier", sagt Brian zu Mathe-Lehrer Wolfgang Schäfing, der jetzt neben ihm sitzt. "Zwölf plus ein sind 13", rechnet er vor. "Woher weißt du das?", fragt Schäfing. "Ich mache mir das einfach, zwei plus eins sind drei, also sind zwölf plus eins 13", meint Brian stolz. "Na dann hast du den Trick erkannt", lobt sein Lehrer.

Wolfgang Schäfing, Leiter der Nordlicht-Schule in Süderbrarup © NDR
"Inklusion ist bei uns kein Thema", sagt der Leiter der Nordlicht-Schule in Süderbrarup, Wolfgang Schäfing.

Wolfang Schäfing ist auch Leiter der Nordlicht-Schule Süderbrarup: "Ich sage immer ganz provokativ: Inklusion ist bei uns kein Thema. Kein Kind fragt: 'Warum sind in der Klasse nur acht Kinder? Warum ist Brian heute bei uns? Warum rechnet der eine bis 100, die andere nur bis zehn?' Es interessiert niemanden."

Alle lernen und spielen gemeinsam

Das Konzept der Campusklassen haben sie seit ihrer Gründung vor fünf Jahren - damals wurden mehrere Dorfschulen zu dieser Schule zusammengefasst. "Wir haben uns vor der Gründung natürlich auch Gedanken über Inklusion gemacht," erinnert Wolfgang Schäfing sich, "wir haben uns viele Schulen angeguckt. Da waren wir unter anderem in Ahrensburg und haben dieses Konzept entdeckt. Das hat uns gefallen und so wollten wir's dann auch haben."

Ziel ist es, dass alle Kinder - egal ob mit Einschränkungen oder ohne - sich begegnen, gemeinsam lernen, gemeinsam spielen - im Unterricht, aber auch auf dem Schulhof. "Die Kinder kommen hierher und denken alle Schulen sind so, es ist für sie nichts Besonderes. Und schon haben wir dieses Ziel erreicht: dass es eben nichts Besonderes ist", sagt Schäfing.

Campusklassen auch an Gemeinschaftsschule

Auch die benachbarte Gemeinschaftsschule am Thorsberger Moor macht bei diesem Konzept mit. Hier sind derzeit zwei Campusklassen. Im neuen Schuljahr sollen es vier sein. Der Schulleiter hier, Malte Bachmann, sieht darin für alle Kinder einen Vorteil:

"Die förderbedürftigen Kinder kommen aus ihrer Komfortzone, sind nicht in dem geschützten Raum Förderzentrum. Sie müssen sich auch in der Cafeteria oder dem Schulhof mal durchsetzen - und merken, dass sie das auch können. Umgekehrt lernen alle anderen Schülerinnen und Schüler einen rücksichtsvollen, aber auch selbstverständlichen Umgang mit Menschen, die ein Handicap haben." Schulleiter der Gemeinschaftsschule am Thorsberger Moor, Malte Bachmann

Förderzentren überfüllt

Schülerinnen und Schüler der Gemeinschaftsschule am Thorsberger Moor in Süderbrarup © NDR
Auch an der Gemeinschaftsschule in Süderbrarup haben Schülerinnen und Schüler mit und ohne Beeinträchtigungen gemeinsam Unterricht.

Zwar gibt es das Konzept der Campusklassen auch schon an anderen Schulen in Schleswig-Holstein, noch aber sind das Ausnahmen. Schleswig-Holstein ist was diese Form der Inklusion angeht im Bundesschnitt unter den Spitzenreiter. Entweder kommen Kinder mit Beeinträchtigungen - in welcher Form auch immer - einzeln in die Klassen von Regelschulen, oder die Kinder werden separiert in einem Förderzentrum unterrichtet. 83 dieser Förderzentren gibt es - mit Schwerpunkten wie zum Beispiel geistige Entwicklung, körperliche oder soziale Entwicklung. Doch einige dieser Zentren sind überfüllt: mehr Bedarf als Platz. Im Kreis Schleswig-Flensburg ist deshalb ein drittes Förderzentrum geplant. Für unbedingt sinnvoll halten das die Schulleiter der Regelschulen in Süderbrarup nicht: "Das kostet Millionen und dauert Jahre. Für einige Schülerinnen und Schüler würde das dann auch weitere Wege bedeuten", sagt Wolfgang Schäfing von der Nordlicht-Schule. Er hält es für besser, wenn stattdessen die bereits bestehenden Regelschulen so aus- und umgebaut werden, dass mehr Campusklassen zustande kommen können.

Campusklassen im Koalitionsvertrag

Tatsächlich scheint auch in der Politik die Idee der Campusklassen immer mehr Aufmerksamkeit zu bekommen: Die Schulleiter aus Süderbrarup wurden gerade erst von einem Arbeitskreis des Bildungsministeriums eingeladen, über ihre Erfahrungen zu berichten. Im Koalitionsvertrag der neuen Landesregierung steht:

"Die Einrichtung von Campusklassen halten wir für eine geeignete Möglichkeit, um das inklusive Lernen von Schülerinnen und Schülern mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung verstärkt zu ermöglichen. Hierzu werden wir ein Rahmenkonzept auf den Weg bringen."

Inklusion bis sie nichts Besonderes mehr ist

Brian hat seine Mathe-Aufgaben erfolgreich gelöst. In der Frühstückspause geht er wieder den Flur zurück in seine Klasse. Aber das jetzt auch nicht mehr lange: Nach den Ferien wechseln er und zwei seiner Mitschüler an die benachbarte Gemeinschaftsschule. Die Lehrer und Lehrerinnen hier wie dort sind sicher, dass auch das klappen wird. Sie machen mit der Inklusion eben so lange weiter, bis sie irgendwann nichts Besonderes mehr ist.

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 23.06.2022 | 19:30 Uhr

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