Ein Kran steht auf einer Baustelle. © picture alliance/dpa Foto: Daniel Bockwoldt

Sozialem Wohnungsbau in Niedersachsen droht starker Einbruch

Stand: 23.05.2022 13:39 Uhr

Bis auf Weiteres werden in Niedersachsen kaum noch günstige Wohnungen entstehen. Die Mehrheit der Baugenossenschaften und kommunalen Gesellschaften will vorerst nicht neu bauen oder modernisieren.

von Christina Harland

Das ist das Ergebnis einer aktuellen Umfrage des Verbands der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Niedersachsen und Bremen, VDW. Verbandsdirektorin Susanne Schmitt sieht eine regelrechte Vollbremsung beim Wohnungsbau: "Falls sich die Rahmenbedingungen nicht ändern, rechnen wir mit einem Neubaurückgang in unserem Verband von jährlich bis zu 1.500 Wohneinheiten ab 2023." Damit entstünden rund zwei Drittel weniger Wohnungen als geplant.

Tatsächliche Zahlen noch höher?

Knapp die Hälfte der Mitgliedsunternehmen des VDW hätten sich an der Umfrage beteiligt, genau 81 Unternehmen. Die tatsächlichen Zahlen, vermutet Schmitt, dürften erheblich höher liegen. Das Ergebnis sei ein verheerendes Signal. Hohe Baukosten machen Projekte unwirtschaftlich. Extreme Preisanstiege bei Baustoffen, Lieferprobleme, zu wenig Handwerker, teure Grundstücke, steigende Hypothekenzinsen - das alles bringt die eben noch florierende Branche durcheinander. Corona und der Ukrainekrieg haben Lieferketten unterbrochen, Versorgungsprobleme geschaffen und eine ganze Branche erschüttert. Bei manchen Baustoffen liegen die Preissteigerungen im Vergleich zum Mai 2021 im zweistelligen Bereich, zum Beispiel beim Konstruktionsvollholz (83,3 Prozent), Stahl (44,3 Prozent), oder Bitumen (63,9 Prozent).

"Keine verlässlichen Angebote möglich"

Karsten Klaus ist Geschäftsführer der größten Baugesellschaft in Hannover, der hanova Wohnen. Das kommunale Tochterunternehmen (ehemals GBH) hat rund 15.000 Wohnungen im Bestand - ein Großteil davon Sozialwohnungen. Angesichts attraktiver Förderungen von Land und Region würde sein Unternehmen eigentlich gern weiter bauen, aber momentan könne nicht seriös geplant werden. Ausschreibungen brächten Ergebnisse, mit denen die hanova nichts anfangen könne, weil es keine verlässlichen Preise und Termine mehr gäbe: "Wir arbeiten quasi mit öffentlichem Geld, wie sollen wir dann verantwortungsvoll ein Bauvorhaben anschieben, wenn wir gar nicht wissen, was es am Ende kostet? Man kann also im Moment nicht mehr verantwortungsvoll beginnen zu bauen."

"Mittelschicht wird Probleme haben, bezahlbaren Wohnraum zu finden"

Der soziale Wohnungsbau habe bislang mit Renditen von zwei bis drei Prozent kalkuliert. Nicht einmal daran sei derzeit mehr zu denken, sagt Klaus. Die hanova werde nur noch begonnene Projekte beenden. Neue Pläne blieben in der Schublade. Auskömmliche Renditen sind derzeit nur noch bei ungeförderten und entsprechend teuer zu vermietenden Wohnungen zu erwarten. Reinold von Thadden vom Mieterbund beobachtet: "Reich baut für Reich, das wird sich nicht ändern. Die Mittelschicht und Menschen mit wenig Geld werden zunehmend Probleme haben, bezahlbaren Wohnraum zu finden." Auch VDW-Chefin Schmitt sieht fatale Folgen: "Am schlimmsten betroffen von dieser Entwicklung sind die Haushalte mit kleineren Einkommen, die auf gute und bezahlbare Wohnungen angewiesen sind: Familien, Alleinerziehende, Senioren, Berufsanfänger und viele mehr." Klaus von der hanova bestätigt: "Im Bereich der frei finanzierten Wohnungen haben wir mittlerweile ein Preisniveau erreicht, das für den normalen, schmalen Geldbeutel kaum noch bezahlbar ist."

Akuter Bedarf an Neubauten

Dabei besteht akuter Bedarf an neuen Wohnungen. Der niedersächsische Wohnungsmarktbericht von Land, Wohnungswirtschaft und dem landeseigenen Förderinstitut NBank sieht schon bis 2025 einen Neubaubedarf von 141.000 Wohnungen in den wachsenden Städten und Gemeinden Niedersachsens. Angesichts des aktuellen Signals der Branche scheint das allerdings unmöglich. Nach Auskunft des Landesamts für Statistik Niedersachsen hat die Bauwirtschaft im vergangenen Jahr in Niedersachsen insgesamt 30.229 Wohnungen fertiggestellt. Fallen ab kommendem Jahr wie erwartet zwei Drittel der Neubauten weg, dürfte der Bedarf bis 2025 nicht annähernd gedeckt werden.

Mieten steigen, bezahlbarer Wohnraum schwindet

Bezahlbares Wohnangebot, heißt es in dem Bericht weiter, dürfe sich nicht auf Wohnungen mit Mietpreis und Belegungsbindungen, also Sozialwohnungen, reduzieren. Tatsächlich werden die Mieten teurer und bezahlbarer Wohnraum immer weniger. Im jüngsten Erfassungszeitraum 2020 waren die Mieten für Bestands- und Neubauwohnungen im Schnitt um mehr als fünf Prozent angestiegen, auf durchschnittlich 7,72 pro Quadratmeter. Zugleich verringerte sich der gesamte Anteil der Wohnungen für unter sieben Euro pro Quadratmeter. Wurden 2015 noch etwa zwei Drittel der Wohnungen in diesem Preissegment angeboten, waren es dem Bericht zufolge 2020 nur noch rund jede dritte Wohnung

Steigender Bedarf besonders an Sozialwohnungen

Dem Pestel Institut aus Hannover zufolge hat der Wohnungsmarkt in Niedersachsen enormen Nachholbedarf, gerade was den sozialen Wohnungsbau betrifft. Jahrelang fielen in Niedersachsen mehr Sozialwohnungen aus der Mietpreisbindung, als neu gebaut wurden. Zum Vergleich: 2015 hatte Niedersachsen noch 90.000 Sozialwohnungen - derzeit sind es 55.000. Das Institut mahnt deshalb mehr als eine Verdopplung an, auf 120.000 Wohnungen. Langfristig brauche Niedersachsen sogar 140.000 Sozialwohnungen. Wenn private Investoren, kommunale Unternehmen oder Genossenschaften Sozialwohnungen bauen, können sie günstige Darlehen vom Staat bekommen. Dafür müssen sie sich verpflichten, die Wohnungen günstig anzubieten.

AWO: "Sozialer Wohnungsmarkt ist tot"

Dass kurzfristig noch ausreichend Sozialwohnungen entstehen, glaubt Marco Brunotte, Vorstand der Arbeiterwohlfahrt (AWO), allerdings nicht. "Der soziale Wohnungsmarkt war ohnehin schon angespannt, jetzt ist er tot", konstatiert er. Die AWO selbst hätte alle Projekte auf den Prüfstand gehoben und werde vieles zunächst auf Eis legen, "weil es auch für uns im gemeinnützigen Bereich - wir müssen ja nichts ausschütten an Gewinnen - trotzdem nicht refinanzierbar und auf Dauer unverantwortbar ist, zumindest zum jetzigen Stand, in diese Projekte zu gehen." Wie andere Wohlfahrtsverbände auch, erlebe die Arbeiterwohlfahrt die aktuelle Lage in doppelter Hinsicht als belastend. "Auf der einen Seite sind wir Anbieter, wir vermieten Wohnraum, für ältere Menschen - durchaus auch sozialen Wohnraum - und merken, wir können da nicht den Bedarf erfüllen. Wir haben aber auch mit den Menschen zu tun, die keinen angemessenen Wohnraum finden, die zu uns kommen und die große Sorgen haben, wie es in Zukunft weitergehen soll."

SPD und Grüne fordern gemeinnützige Landeswohnungsbaugesellschaft

Die Lage auf dem Wohnungsmarkt beschäftigt auch die Politik. Die niedersächsische SPD will im Falle eines Wahlsiegs im Oktober für eine Wiederauflage einer gemeinnützigen Landeswohnungsbaugesellschaft sorgen, sagte ihr Spitzenkandidat und amtierender Ministerpräsident Stephan Weil bei der Vorstellung seines Wahlkampfprogramms. Thordies Hanisch, baupolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion, bekräftigte vergangene Woche im Landtag: "Der Markt versagt in dieser gesellschaftlich zentralen Frage, weil für die Unternehmen der Profit über dem Gemeinwohl steht. Wir müssen die Menschen in Niedersachsen vor der Marktwirtschaft schützen und mit einer Landeswohnungsbaugesellschaft selbst planen und bauen." Die Grünen hatten schon Ende 2019 einen Antrag zur Wiedereinführung einer solchen Gesellschaft vorgelegt. CDU und FDP sind strikt dagegen. Die FDP-Abgeordnete Susanne Schütz sagte, eine Landeswohnungsbaugesellschaft sei nicht die einfache Lösung für komplexe Probleme, sondern eine "Fata Morgana". Die damalige CDU-Landesregierung hatte 2005 die Niedersächsische Landesentwicklungsgesellschaft NILEG für 1,5 Milliarden an den Investor Fortress verkauft.

Branche hofft auf Beruhigung

Die Branche sieht aktuell mehr Fragen als Antworten, setzt aber auf eine gemeinsame Kraftanstrengung. Hanova-Chef Klaus richtet sich mit seinem Unternehmen auf ein tiefes Tal ein, dass die Branche nun durchschreiten müsse. Irgendwann, sagt er, werde es aber auch wieder Planungssicherheit geben, dann würde es mit dem geförderten Wohnungsbau auch weitergehen. VDW-Chefin Schmitt hofft auf Unterstützung der Politik zur Beruhigung der Märkte. Und sie sieht die Kommunen in der Pflicht, günstiges Bauland für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung zu stellen.

Weitere Informationen
Baukräne stehen am frühen Morgen im Neubaugebiet Kronsrode. © dpa-Bildfunk Foto: Julian Stratenschulte

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Dieses Thema im Programm:

Hallo Niedersachsen | 23.05.2022 | 19:30 Uhr

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