Eine Glocke steht vor einer leeren Kirchenbank. © Kirche im NDR Foto: Christine Raczka

Kommentar: Kirchenaustritte - Erosion und Zeichen der Zeit

Stand: 27.06.2022 18:56 Uhr

Die Zahl der Kirchenaustritte steigt, die katholische Kirche hat 2021 so viele Mitglieder verloren wie noch nie. Wer bietet in unsicheren Zeiten den Menschen eine Perspektive, die nach Sinn suchen?

Ein Kommentar von Florian Breitmeier

Weniger als die Hälfte der Bevölkerung hierzulande ist noch Mitglied in der evangelischen oder katholischen Kirche. Die emotionalen Bindekräfte lassen nach, der Vertrauensverlust ist enorm, es herrscht Erosion auf allen Ebenen. Im Erzbistum Köln steigen die Austrittszahlen um mehr als 130 Prozent im Vergleich zum Jahr 2020. Wer mag da noch von einer Austrittswelle sprechen? Der renommierte Kirchenrechtler Thomas Schüller nicht: "Woelki-Tsunami" nennt er, was sich dort ereignet hat: 40.000 Austritte mitten in der jüngsten Amtszeit des Erzbischofs Rainer Maria Woelki. Der selbstgefällige Umgang mit dem Missbrauchsskandal, Finanzgeschäfte nach Gutsherrenart, rabiate Reformverweigerungen auf dem Synodalen Weg, all das schlägt am Rhein zu Buche.

Aktive Christen kehren der Amtskirche den Rücken

Florian Breitmeier © NDR Foto: Christian Spielmann
Florian Breitmeier ist Leiter der NDR Redaktion Religion und Gesellschaft.

Aber auch andere Bistümer legen Statistiken des Niedergangs vor. Im Erzbistum Hamburg traten im vergangenen Jahr rund 50 Prozent mehr aus als im Vorjahreszeitraum. Nicht besser sind die Zahlen aus Hildesheim und Osnabrück. Bitter muss den Bischöfen vor allem aufstoßen, dass längst nicht mehr nur die sogenannten Fernstehenden den Gemeinden endgültig den Rücken kehren. Längst treten auch Menschen aus, die bisher sehr aktiv in der Kirche waren, die sich auch weiterhin als Christinnen und Christen fühlen, nur einfach mit der Amtskirche nichts mehr zu tun haben wollen.

Austreten, um den eigenen Glauben zu retten?

Und viele von denjenigen, die auch im vergangenen Jahr in der Kirche geblieben sind, werden sich zeitweise gefragt haben, ob sie es mit ihren Moralvorstellungen und christlichen Überzeugungen überhaupt noch in Einklang bringen können, in der katholischen Kirche zu bleiben. Austreten, um vielleicht den eigenen Glauben zu retten. So weit ist es mit der katholischen Kirche hierzulande gekommen. Und ein Ende ist vorerst nicht in Sicht.

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Immer mehr bleiben auch den Gottesdiensten fern

Ein weiterer Blick in die Statistik verrät es. Heftig sind die Einbrüche bei den Teilnehmerzahlen der Gottesdienste. Im Vergleich zum Jahr 2019 - also vor Corona - hat sich die Zahl mehr als halbiert. Viele von denen, die die Messe am Sonntag nicht mehr aufsuchen, sind vielleicht schon die Ausgetretenen von morgen. Sicher, es nutzen auch viele Gläubige das umfangreiche Angebot im Internet, Radio und TV und gehen deshalb nicht mehr in die Gottesdienste.

Die Feier in der Gemeinde ist nicht zu ersetzen

Aber als Ort, wo sich Gemeinschaft stimmungsvoll und sinnlich erfahren lässt, bleibt die Feier in der Gemeinde wichtig, um sich anrühren zu lassen, von einer Musik, Sprache und Tradition, die die Grenzen des eigenen Sinnhorizonts übersteigen kann. Gerade in einer Zeit großer Verunsicherung könnte das eine Perspektive für viele Menschen bieten, die nach Sinn und Tiefe in ihrem Leben suchen. Nur dass die Kirchen - allen ehrlichen Anstrengungen und durchaus vorhandenen Erfolgen zum Trotz - ein Ort wären, wo Menschen massenhaft Unterstützung bei ihrer Suche nach Halt und Haltung erfahren würden, das muss man angesichts der hohen Austrittszahlen doch stark in Zweifel ziehen.

Hat die Kirche die Zeichen der Zeit verstanden?

Die katholische Kirche hat im vergangenen Jahr durch Todesfälle und Austritte rund zwei Prozent ihrer Mitglieder verloren. Hält dieser Trend an, ist die Kirche in einigen Jahrzehnten rein rechnerisch Geschichte. Doch für die Gesellschaft wäre es kein Gewinn, wenn die Verluste ungebremst weitergingen und die Kirche keine Rolle mehr spielte. Dass es dazu nicht zwangsläufig kommen muss, dafür kann die Kirche selbst etwas tun: Macht teilen, Geld teilen, Glauben teilen, Hoffnung teilen. Denn wer teilt, ist nicht allein. Wobei offenbar vielen der Glaube fehlt, dass die Kirche die Zeichen der Zeit auch verstanden hat.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | Regional Hannover | 28.06.2022 | 06:30 Uhr

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