Jüdischer Schützenkönig: Auf den Spuren von Arthur Samuel

Stand: 06.02.2023 06:11 Uhr

Arthur Samuel hat als Jude die Zeit des Nationalsozialismus in Cadenberge (Landkreis Cuxhaven) überlebt. Zweimal war er dort Schützenkönig. Nun gibt es eine Internetseite über sein Leben.

von Christina von Saß

"Wenn mein Großonkel nicht Schützenkönig gewesen wäre, würden wir heute nicht hier sitzen." Damit bringt Henry Irwig es auf den Punkt. Wir trinken eine Tasse Kaffee auf seiner Veranda in einem Vorort von Boston an der amerikanischen Ostküste. Henry erzählt mir von seinem Onkel Arthur Samuel, dem einzigen jüdischen Schützenkönig, den Niedersachsen nach dem Zweiten Weltkrieg hatte. Es ist ein Treffen, das sicherlich ohne das Internet nie zustande gekommen wäre. Vor allem aber würden wir an diesem sonnigen Juli-Nachmittag nicht zusammensitzen, wenn zwei Brüder aus Cadenberge nicht vor einigen Jahren damit begonnen hätten, die unglaubliche Geschichte von Arthur Samuel zu recherchieren.

Brüder waren Nachbarn von Arthur Samuel in Cadenberge

Über diese intensive Recherche von Dietmar und Rudi Zimmeck hat Hallo Niedersachsen vor zweieinhalb Jahren zum ersten Mal berichtet. Die heute 73 und 69 Jahre alten Brüder waren als Kinder in den 60er-Jahren in ihrer niederelbischen Heimatstadt Cadenberge Nachbarn von Arthur Samuel gewesen. Seine Lebens- und Leidensgeschichte während der Nazi-Zeit war damals in dem Ort kein Thema - vor allem die Frage, wie er als Jude überhaupt hatte überleben können -, aber Jahrzehnte später tauchten die Brüder dann tief ein in sein Schicksal. Sie trugen Dokumente aus Archiven zusammen, sprachen mit Heimatpflegern und Zeitzeugen und fanden eben auch heraus, dass Arthur Samuel Schützenkönig in Cadenberge gewesen war. Sogar zweimal: in den 20er-Jahren und 1961, in der noch jungen Bundesrepublik.

Arthur Samuel war stolz auf sein Amt als Schützenkönig

Henry Irwig kann sich erinnern, dass sein Großonkel stolz darauf war, Schützenkönig in Cadenberge gewesen zu sein. Bei seinen Eltern und seiner Großmutter habe das Amt erst mal für Skepsis gesorgt, erzählt er: "Gewehre und unsere Familiengeschichte - das schien nicht zusammenzupassen. Andererseits war das Gefühl der Familie: Arthur hat überlebt! Das allein ist schon unglaublich. Und wenn er dann wieder Teil der Gemeinschaft sein kann, umso besser. Gut für ihn." Viele Jahrzehnte später, im Sommer 2021, googelt Henry Irwig seinen mittlerweile lange verstorbenen Großonkel. Unendlich viele Treffer. Dann tippt er ein: "Arthur Samuel Schützenkönig“ und stößt tatsächlich auf die Recherchen von Dietmar und Rudi Zimmeck. Und er findet den Beitrag von Hallo Niedersachsen. Henry Irwig nimmt Kontakt auf und die Rekonstruktion der Geschichte des jüdischen Schützenkönigs geht in eine neue Phase.

"Eine Sammlung über das Leben der Samuels"

Die drei Männer beginnen eine äußerst produktive Zusammenarbeit: über die Distanz von mehr als 6.000 Kilometern hinweg tauschen sie in unzähligen Videokonferenzen Dokumente, Wissen und Fotos aus. Sie beschließen, eine Internetseite auf die Beine zu stellen, mit zwölf Kapiteln über Arthur Samuel und seine Frau Eugenie und ihr Leben in Cadenberge: "Wir sind ja alle schon ein bisschen älter", erzählt Dietmar Zimmeck. "Aber Henry ist da sehr fit und so hat alles sehr gut geklappt." Und Rudi Zimmeck ergänzt: "Wir legen keine streng wissenschaftliche Arbeit vor, aber eine Sammlung von Fakten, Momentaufnahmen, Erinnerungen und persönlichen Bewertungen über das Leben der Samuels."

NS-Zeit: Sechs der sieben Geschwister starben

Foto von Else (links) und ihrer Tochter Ellen (rechts). Beide wurden ermordet. © Henry Irwig
Else (links) und Ellen wurde von den Nazis ermordet.

Durch Henry Irwig kommt neues Wissen hinzu. Bei dem Besuch auf seiner Veranda zeigt mir der 79-Jährige ein großes Familienalbum mit Dutzenden Fotos und vielen Namen: Ota, Else, Ellen, Emilie, Käte und Herbert. Und ich erfahre, was auch auf der fertig gestellten Internetseite nachzulesen ist: Sechs der sieben Geschwister von Arthur Samuel sind in der Nazi-Zeit ums Leben gekommen oder wurden umgebracht. Außer Arthur Samuel hat nur noch Schwester Emilie überlebt, Henrys Großmutter. Auch eine Tochter von Emilie wurde ermordet: Else. Von Else und deren Tochter Ellen gibt es ein anrührendes Foto aus den frühen 30er-Jahren.

Ein Treffen in Cadenberge

Jahrzehnte nach der Nazi-Zeit haben die drei Männer jetzt ein Stück Faden wieder aufgenommen, der durch den Holocaust zerschnitten wurde. Und zwischen ihnen ist über die monatelange Zusammenarbeit eine Freundschaft entstanden. In diesem Frühjahr wollen sie sich endlich zum ersten Mal treffen: in Cadenberge in Niedersachsen, der Heimatstadt von Arthur Samuel.

Weitere Informationen
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Dieses Thema im Programm:

Hallo Niedersachsen | 05.02.2023 | 19:30 Uhr

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