Was wir über die Ausbreitung der Omikron-Variante wissen
Es kursieren derzeit viele Zahlen dazu, wie weit fortgeschritten die Ausbreitung von Omikron in Deutschland sein könnte. Die meisten von ihnen sind jedoch unbrauchbar. Wie schlimm ist dieser Daten-Blindflug für die Einschätzung der Corona-Pandemie?
Es wirkt, als sei schon alles klar: Hamburg und Schleswig-Holstein gehen davon aus, dass Omikron bereits die vorherrschende Variante ist. Niedersachsen meldet einen 70-prozentigen Anteil der neuen Virusvariante, und der leitende Hygieniker der Universitätsmedizin Greifswald sieht Omikron auch in Mecklenburg-Vorpommern bereits als dominant an.
Deutschlandweit schätzt das Bundesgesundheitsministerium (BMG) den Anteil von Omikron derzeit auf 25 Prozent. "Insofern müssen wir eigentlich davon ausgehen, dass in wenigen Tagen Omikron auch bundesweit die dominierende Variante sein wird", heißt es aus der Behörde von Minister Karl Lauterbach (SPD).
Diese Einschätzungen mögen zutreffen. Mit Daten belegen lassen sie sich aber nicht - zumindest nicht mit öffentlich verfügbaren Daten. Das Einzige, was sich aus ihnen derzeit schlussfolgern lässt, ist, dass sich Omikron in Deutschland zunehmend ausbreitet. Und zwar schnell. Sonst geben sie kaum Stichhaltiges her. Auch wenn das Bedürfnis nach einem objektiven Zahlenbeleg sehr groß ist.
Welche verlässlichen Daten zur Verbreitung der Omikron-Variante in Deutschland gibt es?
Die verlässlichsten Daten zur Ausbreitung von Omikron stammen aus einer repräsentativen Stichprobe des Robert Koch-Instituts (RKI). Es wählt zufällig einige Tausend positive Coronatest-Proben aus und analysiert deren Erbgut. Mit dieser sogenannten Genomsequenzierung lässt sich die Virusvariante sehr sicher feststellen. In der Kalenderwoche 51 des vergangenen Jahres sequenzierte das RKI gut 1.600 solcher Proben. In 20 Prozent der Fälle wurde dabei Omikron festgestellt, in 80 Prozent die Delta-Variante - bundesweit.

Der Omikron-Anteil für die 51. Woche wird in den nächsten Wochen noch durch Nachmeldungen wachsen - wahrscheinlich deutlich. Legt man zugrunde, wie die Werte in der Vergangenheit durch Nachmeldungen stiegen, so könnte er in der Weihnachtswoche bei mindestens 24 Prozent gelegen haben. Doch dies ist nur eine sehr unsichere Schätzung. Denn für den jüngsten Bericht analysierte das RKI besonders wenige Proben. In den Vorwochen waren es statt etwa 1.600 mindestens 4.000 Fälle. Durch Nachmeldungen stieg der Umfang jeweils auf etwas über 8.000 Proben.
Dazu kommt: Der jüngst berichtete Omikron-Anteil ist zwei Wochen alt. Zwei Wochen, in denen Omikron sich weiter rasant ausgebreitet haben dürfte. Wie hoch der Anteil der Variante in der aktuellen Januarwoche ist, lässt sich aus den vergangenen Genomsequenzierungen in der RKI-Stichprobe nicht ableiten. Es ist schlichtweg mathematisch nicht möglich. Denn zum einen ändert sich die Größe der RKI-Auswahl von Woche zu Woche, zum anderen ändert sich die tatsächliche Gesamtzahl der Delta- und Omikron-Fälle - und zwar in sehr unterschiedlichem und unbekanntem Tempo. Beides erzeugt zu viele Unsicherheiten für eine einfache Rechnung.
Auch Aussagen zur mutmaßlichen Verdopplungszeit von Omikron, also der Zeitspanne, in der sich die Neuinfektionen verdoppeln, helfen hier nur bedingt weiter. Zwar nennt das RKI in einem Bericht einen Wert von drei Tagen, und Virologe Christian Drosten spricht im Coronavirus-Update-Podcast von NDR Info von vier. Doch um aus dieser Verdopplungszeit einen plausiblen Omikron-Anteil zu berechnen, bräuchte es ein statistisches Modell mit vielen geschätzten Annahmen. Darunter auch die Verdopplungszeit selbst, für die es ebenfalls kaum eine solide Datengrundlage gibt. Der Münchner Statistiker Helmut Küchenhoff, der sich intensiv mit der Modellierung von Corona-Kenngrößen beschäftigt, hält solche "in die Zukunft weisenden Modellrechnungen" derzeit für "sehr problematisch".
Der zuverlässigste Wert, den es gibt, ist also einer für ganz Deutschland vor zwei Wochen - und auch der muss gedanklich noch um Nachmeldungen nach oben korrigiert werden.
Warum kann man über regionale "Omikron-Hotspots" in Deutschland eigentlich nichts sagen?
Die Daten der RKI-Stichprobe sind zwar die besten verfügbaren. Doch wie die Omikron-Fälle regional verteilt sind, lässt sich daraus nicht ableiten. Dafür ist die Auswahl der Proben zu klein. Darum berechnet das RKI daraus nur Bundeswerte.
Werden dennoch Aussagen zur regionalen Verteilung der Omikron-Variante in Deutschland gemacht, so stützen sich diese in der Regel auf eine weitere vom RKI veröffentlichte Datenbasis - die sogenannten IfSG-Meldedaten. Andere zentrale Daten zur regionalen Verteilung gibt es in Deutschland nicht.

Doch auch wenn viele der Versuchung nicht widerstehen können: Die Situation in verschiedenen Bundesländern anhand dieser IfSG-Meldedaten zu vergleichen, ist ebenso verkehrt, wie die zeitliche Veränderung in einer Region daraus zu berechnen. Die Daten beruhen nämlich zum allergrößten Teil auf den Ergebnissen sogenannter variantenspezifischer PCR-Tests, die die Virusvariante erkennen. Die Anzahl dieser Tests variiert aber von Woche zu Woche und von Bundesland zu Bundesland deutlich.
Es gibt auch kein Standardverfahren, in welchen Fällen sie überhaupt veranlasst werden - auch das ist sehr unterschiedlich und daher problematisch. Denn wird die Variante per PCR-Test nur dann untersucht, wenn ohnehin ein Verdacht auf Omikron besteht, dann findet man anteilig mehr Omikron-Fälle, als es sie tatsächlich unter allen Corona-Neuinfektionen gibt. Das Ergebnis ist also verzerrt.
Das RKI schreibt zu den sehr unterschiedlichen Omikron-Zahlen in den Bundesländern: "Die Schwankungen ergeben sich aus den zum Teil noch niedrigen Omikron-Fallzahlen, der unterschiedlichen Häufigkeit von Testungen auf das Vorhandensein von besorgniserregenden Varianten in den einzelnen Bundesländern sowie Verzögerungen in der labordiagnostischen Erfassung und Übermittlung."
Warum liegt Omikron wahrscheinlich dennoch schon vorne?
Auch wenn es nicht durch Genanalysen oder PCR-Tests belegt ist: Dass Omikron in einigen Bundesländern inzwischen das Ruder übernommen hat, ist dennoch plausibel. Das glaubt etwa Andreas Schuppert, Professor für computergestützte Biomedizin an der RWTH Aachen: "Wir sehen zum Beispiel, dass in Bremen, Schleswig-Holstein aber auch Hamburg und Hessen die Inzidenzen inzwischen deutlich über den Inzidenzen vor Weihnachten liegen." Dies sei mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit der Omikron-Variante geschuldet, so Schuppert.
"In Bremen und Schleswig-Holstein ist die Inzidenz inzwischen mehr als doppelt so hoch wie vor 14 Tagen. Auch in Hamburg haben wir über die Weihnachtsfeiertage hinweg gegen jeden Trend eine zunehmende Inzidenz gesehen, was darauf hindeutet, dass wir es schon mit massiven Omikron-Ausbrüchen zu tun hatten." Die aktuellen Inzidenzzahlen seien jedoch durch fehlende Meldungen an den Feiertagen nach wie vor mit Vorsicht zu interpretieren.
Ist es überhaupt wichtig, welche Coronavirus-Variante sich gerade ausbreitet?
Oft scheint Omikron zu milderen Krankheitsverläufen zu führen als die Delta-Variante. Gleichzeitig ist Omikron ansteckender. Das kann zum Problem werden: Zum einen fallen sehr viele Menschen gleichzeitig im Beruf aus, weil sie krank oder in Quarantäne sind. Gerade in systemrelevanten Bereichen wie dem Gesundheitssektor führt dies zu Schwierigkeiten. Und auch die Zahl schwerer Fälle kann so groß werden wie noch nie. Das Risiko schwer zu erkranken ist zwar bei Omikron geringer als bei Delta. Die schiere Gesamtzahl der Erkrankungen wird aber vermutlich um so vieles größer sein, dass sie das verminderte Risiko mehr als wettmacht. Die Überlastung der Intensivstationen könnte darum nur noch eine Zeitfrage sein. Das bestätigt auch Clemens Wendtner von der München Klinik Schwabing. "Das heißt, wenn ich eine zwei- bis dreifach erhöhte Infektiösität habe, wird für uns die absolute Zahl der Erkrankten in den Kliniken dann trotzdem ein Problem sein."
"Mild heißt nicht harmlos", sagt der Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin außerdem. "Wir wissen noch nicht, was bei Omikron mit dem Long-Covid-Verlauf ist. Auch wenn ich mich nur mit sehr leichten Symptomen anstecke, heißt es ja nicht, dass ich auch langfristig keine Probleme entwickle." Auch würden bestimmte Medikamente, die im vergangenen Jahr zur Behandlung von Covid-19 entwickelt wurden, bei der Omikron-Variante nicht wirken.
Wie schlimm ist denn nun der Omikron-Datenmangel?
Die Datenlage zur Omikron-Ausbreitung in Deutschland ist vage. Für den Virologen Christian Drosten ist die Lage dennoch recht klar: Er sehe nicht nur, dass die Zahlen wie erwartet stiegen, sagt er in der aktuellen Folge des Coronavirus-Update-Podcasts. Sondern auch, dass die Omikron-Welle hierzulande etwas langsamer wüchse als in anderen Ländern, da sie in Deutschland auf mehr Kontrollmaßnahmen treffe. In England etwa habe es kaum mehr starke Maßnahmen gegeben, da man sich wegen der weit fortgeschrittenen Booster-Kampagne sicher wähnte. "Wir haben im Gegensatz zu diesen Ländern immer noch Maßnahmen in Kraft und das ist wahrscheinlich der Grund, warum wir jetzt ein langsameres Zuwachsen von Omikron sehen", so der Charité-Forscher.
Die Debatte um die unsichere Datenlage zur Ausbreitung von Omikron findet Drosten nicht zielführend: Die Aufregung über den "Mangel an Zahlen" und den damit verbundenen "Blindflug" ist seines Erachtens "ziemlich vergeblich".
Für ihn ist entscheidend, dass sich die Krankheitsschwere zunehmend von den Inzidenzzahlen entkoppelt, dass also bei hohen Inzidenzen nicht in gleichem Maße auch unbedingt die Belastung der Krankenhäuser steigt. Nach Auffassung des Virologen ist dies auch in Deutschland schon beobachtbar. Chefarzt Wendtner aus München warnt jedoch: "Gerade für Ungeimpfte kann Omikron individuell zu sehr schweren Verläufen führen, die uns auf den Intensivstationen belasten werden."
